»Es kann doch aber nicht sein, dass wir Menschen durch Beeinflussung der Spiegelneuronen-Aktivität uns im Extremfall zu Psychopathen entwickeln? Das wäre ja eine Horrorvorstellung!«
»Moment. Das müssen wir schon differenzieren. Was ist ein Psychopath? Heute weiß man, dass das Gehirn von Psychopathen und auch von Soziopathen meist extrem wenig oder oftmals auch gar keine Spiegelneuronen-Aktivität aufweist. Die Hirnbereiche, die fürs Verständnis von Emotionen zuständig sind, verfügen über weniger graue Hirnmasse als die der meisten anderen Menschen.«
»Graue Hirnmasse?« Wollte der Mann nicht verständlich reden?
»Bitte, verzeihen Sie, ich schweife ab. Ich wollte darauf hinaus, dass solchen Menschen zwar ansatzweise die bereits erwähnte kognitive Perspektivenübernahme ihres Gegenübers gelingt – aber es kommt zu keiner echten emotionalen Anteilnahme. Den Unterschied hatte ich erläutert. Das Leid des anderen lässt solche Menschen innerlich kalt, die kognitive Anteilnahme benutzt so jemand dann vor allem, um sein Gegenüber zu manipulieren. Neueste Studien legen nahe, dass die psychopathische Persönlichkeitsstruktur vorrangig genetisch bedingt ist.«
»Um Psychopathen soll es in meiner Reportage aber ja nicht gehen. Vielleicht habe ich mich etwas missverständlich ausgedrückt, Herr Professor«, bremste Natascha ihn. »Eher geht es um das zunehmend kühler werdende zwischenmenschliche Miteinander in unserer Gesellschaft.«
»Ja, ich weiß. Auf der Leiter von normaler Spiegelneuronen-Aktivität über ihre Verminderung bis hin zum totalen Fehlen finden Sie unzählige Ausprägungen, die wiederum die Emotionen und das Verhalten mehr oder weniger stark steuern. Es ist ja zum Glück so, dass Extremfälle nur einen kleinen Teil ausmachen – die absolute Minderheit. Nicht auszudenken, wenn es anders wäre! Es ist im Gegenteil so, dass Menschen mit stark eingeschränkter Spiegelneuronen-Aktivität oft fest in die Gesellschaft integriert sind. Mit ihrer in der Regel hohen Intelligenz und oft auch starken Anziehungskraft nehmen sie andere für sich ein, um ihre eigene Macht zu vergrößern. Wie Raubtiere unterwerfen sie ihr Umfeld, lügen und betrügen und bereichern sich auf Kosten anderer, ohne schlechtes Gewissen. Oft täuschen sie gute Absichten vor – doch das Wohl anderer ist ihnen völlig egal. Sie wissen genau, was die Gesellschaft von ihnen erwartet, und passen sich daran an, doch letztlich verfolgen sie nur ihre eigenen Interessen. Durch die verringerte, oft kaum mehr vorhandene Aktivität der Spiegelneuronen sind ihre Hemmschwellen gesunken oder fehlen im schlimmsten Fall ganz. Fliegen sie auf, stellen sie sich gerne als Opfer dar, Opfer ihrer Geschichte, ihres Elternhauses oder der Umwelt. Sicher sind das alles Einflussfaktoren, aber eben weniger ausschlaggebend als oftmals angenommen. Aber bezogen auf den langfristigen, ausgiebigen und extremen Konsum medialer Gewalt ist festzuhalten: Irgendwann bleiben im Gehirn empathische Reaktionen vollends aus – es ähnelt dann zunehmend dem Hirn eines Psychopathen. Aufgrund der geschrumpften Aktivität der Spiegelneuronen fällt es solchen Menschen zunehmend leichter, über die Gefühle anderer hinwegzugehen, sie auszutricksen, auszubooten, ja sie zu verletzen – irgendwann womöglich auch Schlimmeres, denn die neuronal erlernten Strukturen verfestigen sich immer mehr, und das Gehirn stuft als normal und richtig ein, was am Ende womöglich nur eines ist: herzlos – hemmungslos – brutal.«
Natascha sagte kein Wort. Das war harter Tobak.
Als hätte der Professor ihre Gedanken gelesen, fügte er hinzu: »Alles hängt ab von der Dosis, der Intensität, der Dauer und der Häufigkeit der Reize. Hinzu kommen die genetische Disposition und das Umfeld, in dem man groß geworden ist, sowie das Umfeld, in dem man sich aktuell bewegt. Und dann können auch bisher völlig unbeachtete Faktoren eine gravierende Rolle spielen. Aber Forschungen in diese Richtung sind noch nicht so weit.« Er hielt einen Moment inne – zu lange für Nataschas Geschmack. »Und vergessen wir den Faktor Sucht nicht.«
»Was genau meinen Sie damit?«, hakte Natascha nach. Da war etwas in Stenzels Stimme, das sie aufhorchen ließ. Als lägen irgendwo zwischen seinen Sätzen endlich Informationen, die Neues, vielleicht sogar Spektakuläres aufs Tablett brachten… Die Forschungen in dieser Richtung sind noch nicht so weit… Aber er wollte offensichtlich nicht mehr rausrücken, warum auch immer, und um Verfestigung von Hirnstrukturen durch permanente Wiederholung, um Suchtpotenzial im Allgemeinen konnte es ihm nicht gehen. Bestenfalls hing es mit dem, auf das er nicht eingehen wollte, lose zusammen, das würde auch seinen schnellen Gedankengang zur Sucht erklären. Wobei: Zwang und Triebkraft gehörten immer irgendwie zu den Gedanken eines Hirn- und Verhaltensforschers. Das konnte es also allein nicht sein, und dazu hatte er bei ihrem Treffen bereits Stellung bezogen.
»Meine Thesen hierzu sind noch zu lückenhaft. Vergessen Sie die Bemerkung einfach.« Stenzel verstand sein Fach. Er hatte genau wahrgenommen, dass Natascha nicht den letzten Satz meinte. »Ich möchte nicht unhöflich sein, aber ich muss Sie auf ein anderes Mal vertrösten, ich bin heute sehr eng getaktet. Lassen Sie mir die Abschnitte, in denen Sie mich zitieren, bitte zur Prüfung zukommen! Mir ist wichtig, nicht falsch verstanden zu werden. Ich habe da so meine Erfahrungen mit Journalisten. Nichts gegen Sie persönlich – Sie verstehen?«
»Das hätte ich ohnehin getan, Herr Professor.«
»Gut. Danke. Sollten Sie noch Fragen haben, mailen Sie mir am besten. Ich bin eher schwer zu erreichen, Sie hatten bisher Glück.«
Redete sie es sich ein, oder hatte sie ein erleichtertes Seufzen vernommen?
»Das mache ich, Herr Professor Stenzel. Ganz bestimmt sogar.«
♦
Zeichen der Zeit
Barash Tamm war auf dem Sprung zur Spätschicht, doch fünf Meter vor seinem Auto blieb er verdutzt stehen. Jemand hatte kackfrech in zweiter Reihe neben seinem geparkt. Gerade jetzt, wo er es eilig hatte, er war spät dran.
Er blickte sich um, vielleicht war der Fahrer ja noch irgendwo. Da sah Barash drei Haustüren weiter eine Person, bei der es sich vielleicht um den Fahrer handelte. Er spurtete los und rief bereits im Laufen: »Hallo! Entschuldigung! Warten Sie bitte einen Moment!« Als Barash den Mann nahezu erreicht hatte, drehte der sich auch schon um. Ein schlaksiger Typ, vielleicht um die dreißig, Barash kannte ihn nicht. »Danke! Ist das Ihr Wagen dort?« Außer Atem zeigte Barash zu dem Fahrzeug, das ihn blockierte. Der kurze Spurt hatte seinen Puls hochgetrieben, in Form war er offensichtlich nicht mehr.
»Ja. Warum?«, fragte der Mann beiläufig oder vielmehr gleichgültig, als ahnte er gar nicht, was Barash von ihm wollte, oder als interessierte es ihn einfach nicht und dieses Auto stünde da, wo man ein Auto eben hinstellte.
»Sie haben mich leider zugeparkt. Könnten Sie bitte kurz wegfahren? Ich muss zur Arbeit und hab‘s sehr eilig«, bat Barash ihn, ruhig und freundlich. Auch er hatte schon mal in zweiter Reihe geparkt, um schnell etwas zu erledigen, wer machte das nicht mal… Wenigstens war der Fahrer in der Nähe geblieben. Alles gut.
»Warten Sie, bis ich wieder da bin«, antwortete der Mann und drehte sich wieder zur Tür. »Ich hab‘s auch eilig. Muss nur schnell an den PC von Sebastian«, er zeigte auf das Klingelschild des Hausbesitzers, »wird eh schon knapp. Dauert nicht lang. Wird auf ein paar Minuten ja sicher nicht ankommen.« Der Mann klingelte, dazu klopfte er mehrfach, heftig, dann blickte er auf seine Armbanduhr. »Basti! Ich bin‘s, beeil dich!«
Für ein paar Sekunden war Barash völlig perplex. Und als wäre er nicht schon verwirrt genug, hatte er obendrauf noch eine Art Déjà-vu. Es war verrückt: Als er vor ein paar Wochen im Urlaub auf Korsika gewesen war, hatte ein Mann eine Reinemachefrau des Hotels zur Schnecke gemacht, weil sie ihm nicht schnell genug sein Zimmer aufgesperrt hatte. Der Gast hatte sich versehentlich ausgesperrt und brauchte dringend seinen PC. Irgendwie ähnelte diese Situation hier jener, die er beim Vorbeilaufen im Gang der Hoteletage mitbekommen hatte. Sachen gibt‘s! Barash fing sich wieder, kam gedanklich zurück ins Hier und Jetzt. Wahrscheinlich hatte ihn das Hämmern an die Tür aus seiner Starre gerissen. Der Ignorant, der ihn zugeparkt hatte, klopfte immer härter an die Tür, er hatte es offensichtlich wirklich eilig. Das war trotzdem kein Grund sich so zu verhalten! Es war doch selbstverständlich, erst das falsch geparkte Auto wegzufahren – es sei denn, es ginge um Leben und Tod! Aber das war hier ja wohl nicht der Fall.
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