Frank hatte schon jemanden im Sinn, dem er von der Sache erzählen würde. Vielleicht würde derjenige dann den Winter über doch auf Mallorca bleiben, statt in die Karibik zu flüchten, was die Chancen erhöhen würde, dass er zum Frühjahr wieder Franks Team verstärkte. Jemand, der inzwischen zu einem guten Freund geworden war und den er, würde er die Insel verlassen, wahrlich vermissen würde.
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Zeichen der Zeit
Larissa Ebel saß auf einem Stuhl in der hinteren Reihe. Hätte ihr Blick töten können, ihre Mitschülerin Marie Gessner wäre just in diesem Moment auf der Bühne umgefallen. Bühne. Podium. Wie auf einen Thron erhoben muss sich die blöde Kuh vorkommen! Lässt sich feiern, die Bitch! Larissa kochte. Hass brachte ihr Blut in Wallung. Neid war es nicht. Warum sollte sie auf Marie neidisch sein?! Dafür, dass diese Schnepfe und ihr Anhang heute vom Bürgermeister persönlich ausgezeichnet wurden? Dafür, dass sie sich mit ihrem vor einem Jahr ins Leben gerufenen Jugendprojekt auf sozialer Ebene in einer Weise verdient gemacht hatte, wie es nur wenige junge Menschen je zuvor fertiggebracht hatten? So jedenfalls nannten es die schleimigen Redakteure der lokalen Presse. Oder dafür, dass nun auch hohe Tiere in Berlin auf das Projekt aufmerksam geworden waren und diese ekligen Good-Girls Lobeshymnen und Blumen von dort erhielten? Dafür, dass sie nun vollends zu Vorbildern stilisiert und schlimmer denn je gelobhudelt wurden? Sicher nicht!
Diese Tussis! Wie Stars auf der Bühne! Die hatten ja schon immer einen Hang zum Strebertum – aber wie die seit letztem Jahr abgingen – Kotz! Allen voran diese Marie, so was von perfekt! Aber das Blatt würde sich wenden. Die Rollen, die Marie und ihre bescheuerten Freundinnen eingenommen hatten, waren etwas für Loser. Mit ihrem ganzen Gutmenschen-Gehabe und ihrer »Vorbildfunktion für alle Schüler«, wie es immer genannt wurde, würde es bald ein Ende haben. Die Zeit war gekommen. Diese von allen geliebten Püppchen hatten sich für die falsche Seite entschieden, im echten Leben wie auch innerhalb der Community. Und jetzt hatten sich ihre ekelerregend perfekten Einstellungen und Eigenschaften auch noch übel potenziert. Kotz!
Aber egal – deren Problem. Naja, am Anfang… Inzwischen war es ein Problem der gesamten Community, also ein Problem von allen. Zum Glück gab es ja auch noch Bad-Girls – so wie sie. Früher schon, und inzwischen mehr denn je. Gut so. Noch mehr von diesen Vorzeigepüppchen, die Community würde stinkelangweilig werden.
Das war ein Problem! Aber ein Problem, das bald gelöst wäre. In den letzten Tagen war Larissa mehr und mehr klargeworden, worin ihre Aufgabe bestand und was zu tun war.
Die Aula der Mittelschule war zum Bersten gefüllt, Lehrer, Eltern, Freunde, Bekannte und die Presse. Die meisten lauschten dem ganzen Gelaber. Warum war sie eigentlich hergekommen? Sie wusste es selbst nicht so recht. Marie auszuschalten, stand erst später an. Wahrscheinlich wollte sie sich nochmals überzeugen, wie nervig Marie und ihr Anhang tatsächlich waren. Das war gelungen. Wenn sie die Mädels auf dem Podium so sah, war klar, dass sie diesen Weg beschreiten musste. Wie um ihr Vorhaben zu bestätigen, fasste sie in ihren Rucksack und fühlte den Schlagring, den ihr eine Freundin besorgt hatte. Er fühlte sich kalt an. Das passte. Sie grinste in sich hinein.
Dann schaute sie auf die Uhr. Fast hätte sie die nächste Folge verpasst. Besser würde sie die Dauer der Veranstaltung nicht nutzen können, wo sich doch zum Ende der aktuellen Staffel gerade alles so zuspitzte… Schnell kramte sie ihr Smartphone heraus, stöpselte sich den Lautsprecherknopf ins Ohr, loggte sich im Portal ein und startete die neueste Folge ihrer Lieblingsserie. Schon kurz darauf war sie so darin vertieft, dass sie alles um sich herum ausblendete.
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Zeichen der Zeit
Mit voller Wucht schmiss Tom Meissner die Tür zu seinem Zimmer zu. Sofort war der Wutschrei seiner Mutter zu hören. »Spinnst Du?! Musst Du die Tür immer so zuknallen?!«
Tom reagierte nicht. Er schmiss seine Jacke in die Ecke und ließ sich am Schreibtisch in den Stuhl plumpsen. Mit einer Hand schnappte er sich die Cola-Dose, mit der anderen startete er den PC. Er war spät dran. Mit seiner Mutter würde er später reden – was auch immer sie schon wieder wollte, als sie ihn eine Minute zuvor unten abzufangen versucht hatte. Ich bin fünfzehn, nerv nicht, Alte! Kurz darauf war er eingeloggt.
Die nächsten vier Stunden hatte er Zeit, das neue Level zu erreichen. Das Level! Marc, dieser Vollpfosten, war seit Tagen drin. Warum war er selbst noch nicht so weit? Die letzten Tage waren nicht gelaufen wie geplant, weder hier im Game, noch in seiner »Rolle«, die er in der aktuellen Staffel der Serie übernommen hatte, entwickelten sich die Dinge so, wie er es erwartet hatte. Wenigstens den heutigen »Außenauftrag« hatte er erledigt, das brachte ihm Zusatzpunkte. Heute war der Tag!
Hunderte brutal niedergemetzelte virtuelle Spielgegner und euphorisch klingende Triumphmelodien später ertönte nach drei Stunden lautstark die langersehnte Siegesfanfare, er hatte das nächste Level erreicht. Jep! Jetzt bin ich gespannt, was auf mich wartet, dachte Tom und lehnte sich zurück, ungeduldig mit den Füßen wippend.
Da blinkte das Kurierbriefsymbol! Er öffnete die Nachricht. Ups! Alter… krass… Er musste Marc anrufen und ihn fragen, welche Wahl der getroffen hatte und ob er sich auch so entscheiden sollte. Voll krass…
Tom sah auf die Uhr. Er hatte Zeit aufgeholt. Nach dem Telefonat mit Marc würde ihm noch ausreichend Zeit bleiben, um an seiner Rolle mitzuarbeiten. Heute war es noch möglich, Vorschläge für die nächste Folge einzureichen. Seine Ideen wurden von Tag zu Tag besser, und er konnte es kaum erwarten. Diese Staffel versprach actionreicher und aufsehenerregender zu werden als alle Staffeln zuvor. Hast Du deine Hausaufgaben heute schon gemacht?, hörte er die Stimme seiner Mutter im Kopf. Er grinste. »Und ob«, raunte er.
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Trotz Stau kam Natascha pünktlich zu ihrem Termin. Kurzfristig hatte sich der renommierte Neurowissenschaftler, Hirnforscher, Psychologe und Verhaltensforscher Prof. Dr. Dr. Hubert Stenzel bereiterklärt, Natascha zu empfangen. Wenn er – eine Koryphäe auf seinem Gebiet – keine Antworten auf ihre Fragen hätte, wer dann?!
»Frau da Silva, kommen Sie herein, setzen Sie sich, bitte!« Stenzel zog Natascha einen Stuhl heran, wartete, bis sie Platz genommen hatte. »Darf ich Ihnen etwas anbieten?« Er setzte sich.
Natascha wählte einen Espresso, den kurz darauf ein junger Mann hereinbrachte. »Vielen Dank, Herr Professor Stenzel, dass Sie sich so kurzfristig Zeit für mich nehmen. Ich weiß das zu schätzen.«
»Gern. Sie hatten wirklich Glück. Die nächsten Wochen bin ich fast nur unterwegs. Wie kann ich Ihnen konkret behilflich sein?«
Der Professor, ein etwa sechzigjähriger Herr mit schütterem grauem Haar, einer schwarz umrandeten Brille und weißgrauem Vollbart, verschwendete keine Zeit mit Small-Talk, was Natascha recht war, sie hatte noch einen weiteren Termin, eine Stunde Fahrtzeit entfernt, bei einer Fachkollegin von Stenzel. Natascha hatte sich vorgenommen, sich in den nächsten Tagen ein Meinungsbild darüber zu machen, ob an ihrer Wahrnehmung, dass das Miteinander in der Gesellschaft sich gegenwärtig stark veränderte, etwas dran war, wie das die Fachleute sahen und welche Gründe sie vermuteten. In kurzen Zügen schilderte sie, worum es ihr ging, an was sie arbeitete, und was sie sich von dem Gespräch erwartete.
»Empathie. Ein gutes Stichwort, Frau da Silva. Empathie. Eine sinnvolle Fähigkeit, die uns Menschen in die Wiege gelegt wurde.« Stenzel lehnte sich zurück. Sein üppiger Bauch präsentierte sich jetzt in voller Pracht. Er hielt einen Moment inne. »Rücksichtsvolles Miteinander, sich um andere kümmern, für jene da sein, die uns brauchen, für Kinder, für ältere, pflegebedürftige oder einfach für schwächere Mitmenschen und Schmerz, Leid, Trauer mit anderen zu teilen, ja darauf überhaupt zu reagieren, all das wäre ohne die Fähigkeit zur Empathie schlicht unmöglich.« Wieder eine kurze Pause, als suche er nach den richtigen Worten, einem Laien etwas klarzumachen. »Wie kommt es nun dazu, dass sich dieses natürlich vorhandene Empfinden eines Menschen ändert? Die Ursachen sind komplex. Teils ist es auch genetisch bedingt, dazu später. Vereinfacht gesagt: im Frontalhirn schrumpfen jene Areale, die für die Kontrolle unseres Verhaltens und unserer Emotionen zuständig sind. Ist der Anteil dieser Hirnbereiche gering oder wird er zunehmend geringer, dann nimmt bei der betreffenden Person die Fähigkeit, Mitgefühl zu empfinden, ab. Übrigens nimmt auch die Fähigkeit ab, Aggression zu kontrollieren, und Aggression tragen wir ja mehr oder weniger alle in uns, zumindest zeitweise und in unterschiedlicher Intensität. Beide Verluste spielen in Folge negativ ineinander. Emotionen haben für unser Verhalten ohnehin eine immense, ganz grundlegende Bedeutung, dies einmal vorweg. Wie gesagt, die Prozesse sind komplex. Eine Schlüsselrolle beim Verlust oder der gravierenden Abnahme der Fähigkeit zur Empathie spielen dabei allerdings die Spiegel-
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