»Nurse«. Ich habe über das Wort nachgedacht. Es verstärkt das Gefühl, mit einer Fremden zusammenzuleben. Sie bleibt unergründlich. Wer ist diese Frieda? Ja, sie hat Familie in Nordengland, ja, sie mag klassische Musik, ja, sie hält eine sehr strenge Diät, ja, sie geht jeden Morgen in die Messe. Franco sagt: »Sie soll ihre Arbeit machen, das ist alles, was uns interessiert.« Er hat sie über eine bekannte Agentur für ausgebildete Kindermädchen gefunden, sie übt den Beruf seit dreißig Jahren aus. Und wennschon! Ich verpasse eine Gelegenheit nach der anderen, meinen Sohn zu lieben.
Erledigen:
Zum Friseur gehen
Medikamente für Arturo kaufen
Champagner bestellen
Lampe
Vielleicht erwacht man eines Tages mit der Leere, nicht der gewesen zu sein, der man sein wollte . Wo habe ich diesen Satz gelesen? Seither sehe ich meine Umgebung mit anderen Augen, wenn ich morgens aufwache. Die Welt erhält Tiefe, Volumen, einen Geruch. Aber das kleine Wunder verflüchtigt sich sehr schnell und wird von erbarmungsloser Tageseintönigkeit abgelöst.
Meine Ehe ist nicht das, was ich erhoffte. Seit Arturos Geburt vor acht Jahren hat sich Francos Zuwendung abgenutzt. Er betrachtet sich morgens im Spiegel, zieht seinen Scheitel und seine Krawatte gerade und verabschiedet sich bestenfalls jeden zweiten Tag von mir, wenn er in die Kanzlei geht. Ich war so lächerlich naiv, als ich ihn geheiratet habe. Ich soll einfach nur gehorchen, das Haus in Ordnung halten und die Erziehung unseres Sohnes überwachen. Weiter nichts. Ich bin ihm unterworfen, verpflichtet.
Als ich gesagt habe, dass ich gern arbeiten würde, war Francos Antwort: »Was würden die Leute sagen? Du hast doch alles, was du brauchst. Frauen in deiner Stellung kümmern sich darum, Abendgesellschaften zu organisieren, und auf dem Gebiet kannst du noch einige Fortschritte machen.« Er begreift nichts, nichts, nichts. Ich bin neunundzwanzig. Meine Wünsche verhallen, versinken ungehört. Unmöglich, mir für den Rest meiner Tage ein Leben als perfect house wife vorzustellen. Wie gern würde ich dieses Korsett abwerfen, dieses Frau von, Mutter von . Ich will nicht mehr so tun als ob.
Gestern ist Großvater am Flughafen angekommen. Ich habe ihn mit Arturo abgeholt. Vati. Er ist alt geworden. Seine Haare sind jetzt ganz weiß, seine dicken Augenbrauen aber immer noch rabenschwarz. Wie lange wird er die Reise von Teresópolis noch machen können? Er bleibt zwei Wochen bei uns. Ich bin glücklich, den Klang seiner Stimme und seinen einzigartigen Akzent zu hören. Unsere Vertrautheit, seine Gesten, sein Lachen wiederzufinden und seine Augen, die ständig etwas suchen. Er ist immer noch genauso lebhaft und akkurat. Immer noch genauso elegant mit seiner schlanken Figur, und wie er den Kopf hält!
Ich denke an die Zeit zurück, als Vati einen wichtigen Platz in meinem Leben einnahm. Das war in Florenz, als ich im Internat war. Damals hat er angefangen, mir einmal in der Woche zu schreiben. Ich höre noch die Stimme der Direktorin, Mrs Holmes, die vom unteren Ende der Holztreppe »Po-ost!« heraufrief. Dann das wilde Gerenne, die lauten Schritte meiner Kameradinnen auf den Stufen. Die Freudenrufe. Die der Enttäuschung. Ich zog mich am liebsten in mein Zimmer zurück, um Vatis Briefe zu lesen. Unter Tausenden würde ich seine Frakturschrift und das cremefarbene Papier erkennen, das er benutzte. Ich schnupperte immer erst am Umschlag, bevor ich ihn öffnete, in der Hoffnung, seinen Duft oder etwas Exotisches zu riechen. Ich war die Einzige, die Post aus so weiter Ferne bekam, aus Brasilien … ein anderer Planet. Er begann jeden seiner Briefe mit Meine geliebte Antonia und unterschrieb mit Dein Vati . Sie enthielten Neuigkeiten über seine Gesundheit, sein Leben in Teresópolis, meine Mutter (die mir nur förmliche Grußkarten zum Geburtstag oder zu Weihnachten schickte). Dieser Briefwechsel hat das Band zwischen uns besiegelt. Er schrieb mir, ich sei die Tochter, die er gern gehabt hätte. Seine Zuneigung war beruhigend und gab mir Kraft. Nonna und er waren meine Schutzengel. Vati hat mich bei meiner Hochzeit zum Altar geführt. Ich war so stolz, an seinem Arm in die Kathedrale zu kommen. Ich höre noch seine Worte, als wir durch das Portal traten: »Komm, meine geliebte Antonia . Geh erhobenen Hauptes. Denn heute bist du eine weiße Callablüte.«
Vati ist für zwei Monate in Europa. Seine weitere Reiseroute: Neapel, Florenz, London, um Antiquitätenhändler zu treffen und Raritäten aufzutreiben. Genf, um seine Tochter und seine Exfrau, Mutti, zu besuchen. Zürich wegen seines Bankiers. In Nizza trifft er sich mit Freunden. Kitzbühel zur Erholung. Von Madrid fliegt er zurück nach Rio. Beim Abendessen hat er uns begeistert erzählt, dass er auf der Suche nach Objekten für seine neue Freundin Evelyn ist. Sie möchte in Rio ein Museum eröffnen, und er berät sie. Er hat sie in New York bei einem gemeinsamen Freund kennengelernt, der ebenfalls Gemälde sammelt. Wie Vati hat auch Evelyn Österreich in letzter Minute verlassen, sie ist kunstbesessen wie er und wird wie er nie nach Wien zurückkehren.
Ist es möglich, dass Vati sein Leben in Brasilien einfach neu angefangen hat? Er redet nie vom Krieg, von Verrat, Erniedrigung oder Raub. Nichts über seine Eltern, die in den Lagern ermordet wurden. Nichts, nichts, nichts.
Arturo lässt ihn nicht aus den Augen.
Wie ich mich gefreut hatte, Vati wiederzusehen, mit ihm an den Strand von Mondello zu fahren! Den Sand unter meinen Füßen zu spüren … und nun stehe ich mitten in der Wüste. Nach dem Spaziergang haben wir uns nebeneinander in das Café direkt am Meer gesetzt, und ich habe mich getraut, ihm von meinen Zweifeln wegen Franco, meiner Unzufriedenheit als Mutter, meinem Gefühl des Nichtseins zu erzählen. Ich hatte den Blick aufs Wasser gerichtet und war so darauf konzentriert, die richtigen Worte zu finden, um ihm zu erklären, wie sehr dieses öde Leben auf mir lastet, dass ich nicht bemerkte, wie sich sein Gesicht veränderte: Als ich ihn ansah, war er ganz bleich geworden. Er war wie versteinert, und seine Stimme kam wie aus dem Jenseits, als er mich mit seinen schwarzen Augen ansah und sagte: »Beklag dich nicht, du hast eine Familie. Es ist deine Aufgabe, sie glücklich zu machen. Ist dir klar, wo du lebst? Wie du lebst? Du solltest zufrieden sein!« Er betonte immer wieder, dass Franco viel arbeite und ich sein Schweigen aushalten müsse. »Es ist ganz normal, dass er sich nicht für dich interessiert, er ist müde, er hat Sorgen. Du bist es, die sich Mühe geben muss! Auf deinen Schultern ruht das Glück der Familie und erst recht Arturos Erziehung.« Diese Flut von Forderungen nahm mir den Atem. Es war, als würde ich zu Boden stürzen und mir das Gesicht aufschlagen.
Ich habe Arturo zum Geburtstag eines Klassenkameraden gebracht. Die Kinder sollten sich verkleiden. Zum Glück hatten wir Nonnas Koffer, darin haben wir eine Musketierjacke, eine lila Hose und eine weiße Perücke gefunden, alles passte perfekt. Er hat sich so gefreut. Nonna wäre glücklich gewesen, dass die Kostüme, die sie für die Tableaux vivants in der Villa Clara genäht hat, immer noch zu etwas gut sind. Als ich Arturo bei seinem Freund abgab, drückte er mir sein Heft in die Hand, das er immer mit sich herumträgt, »Meine Traumhäuser«. Ich habe es mir im Café angesehen, lauter bizarre Häuser, die er seine Schlösser nennt. Ob er einmal Architekt wird?
Franco findet, ich soll Kochkurse besuchen, um mich zu beschäftigen. »Du bist zu viel allein. Das bringt dich auf andere Gedanken, und vielleicht wirst du dann doch noch eine anständige Köchin und ordentliche Ehefrau.«
Читать дальше