28. Juni 28. Juni Vielleicht erwacht man eines Tages mit der Leere, nicht der gewesen zu sein, der man sein wollte . Wo habe ich diesen Satz gelesen? Seither sehe ich meine Umgebung mit anderen Augen, wenn ich morgens aufwache. Die Welt erhält Tiefe, Volumen, einen Geruch. Aber das kleine Wunder verflüchtigt sich sehr schnell und wird von erbarmungsloser Tageseintönigkeit abgelöst. Meine Ehe ist nicht das, was ich erhoffte. Seit Arturos Geburt vor acht Jahren hat sich Francos Zuwendung abgenutzt. Er betrachtet sich morgens im Spiegel, zieht seinen Scheitel und seine Krawatte gerade und verabschiedet sich bestenfalls jeden zweiten Tag von mir, wenn er in die Kanzlei geht. Ich war so lächerlich naiv, als ich ihn geheiratet habe. Ich soll einfach nur gehorchen, das Haus in Ordnung halten und die Erziehung unseres Sohnes überwachen. Weiter nichts. Ich bin ihm unterworfen, verpflichtet. Als ich gesagt habe, dass ich gern arbeiten würde, war Francos Antwort: »Was würden die Leute sagen? Du hast doch alles, was du brauchst. Frauen in deiner Stellung kümmern sich darum, Abendgesellschaften zu organisieren, und auf dem Gebiet kannst du noch einige Fortschritte machen.« Er begreift nichts, nichts, nichts. Ich bin neunundzwanzig. Meine Wünsche verhallen, versinken ungehört. Unmöglich, mir für den Rest meiner Tage ein Leben als perfect house wife vorzustellen. Wie gern würde ich dieses Korsett abwerfen, dieses Frau von, Mutter von . Ich will nicht mehr so tun als ob.
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Als ich heute Morgen die Augen aufmachte, war ich nicht fähig, mich zu bewegen. Mein Körper schien sich in den Laken aufgelöst zu haben und schwamm in giftigem Schweiß. Erst als ich das Kindermädchen hörte, sprang ich aus dem Bett. Nurse , wie sie genannt werden möchte, stand mit Arturo an der Tür. Wohin gehen Sie? »Wir gehen zur Schule, of course «, antwortete sie mit ihrer ewig vorwurfsvollen Miene. Sie knallte mir buchstäblich die Tür vor der Nase zu. Dann ist mir eingefallen, dass ich meinem Sohn gestern beim Abendessen versprochen hatte, ihn heute in die Schule zu bringen, und ich habe mich geschämt.
Ich habe Haarausfall. Ich habe Migräne. Ich kann zusehen, wie ich dicker werde, und passe nicht mehr in meine Kleider. Meine neueste Angewohnheit: Sobald Franco aus dem Haus geht, hänge ich schwarze Laken über die Spiegel.
Gestern hat er mir vorgeworfen, ich wisse nicht, wie man den Hausangestellten Anweisungen gibt. Ich sei zu freundlich zu ihnen. Seine Stimme war verächtlich. Als er zu freundlich sagte, zog er die Silben auseinander, und an den Rändern seiner rollenden Zunge sammelten sich Speichelblasen. Er nennt Maria hartnäckig Magd .
Nurse in ihrer Krankenschwesterntracht tut ganz harmlos, aber sie belauert mich. Ich hätte sie gleich am Anfang wegschicken müssen. Sie hat mir verboten, Arturo zu stillen und ihn nachts bei mir zu behalten. Sie hat mit ihrem perfekten Dutt, ihrer glatten Haut, ihrem kleinen, dichten Schnurrbart, ihren Vorschriften und ihren eisblauen Augen zu viel Raum zwischen ihm und mir eingenommen.
Heute früh um neun Termin mit Onkel Ben beim Notar in der Via Cavour. Wir haben endlich die letzten kleinen Streitigkeiten wegen Nonnas Testament beigelegt.
Alles ist ganz ruhig vonstatten gegangen. Ich war wie betäubt. Ich habe geerbt, was Papa zugestanden hätte: viel Geld, die Hälfte der Möbel aus der Villa Clara (wo soll ich sie hinstellen?) und die sechs Wohnungen in Florenz (monatliche Einnahmen). Endlich ist diese Angelegenheit erledigt. Ich bin froh, dass ich niemals finanziell von Franco abhängig sein werde.
Beim Notar ist mir bewusst geworden, dass seit Nonnas Tod schon fünf Jahre vergangen sind. Trotzdem passiert es mir noch, dass ich beim Klingeln des Telefons, glaube, hoffe, ich werde ihre Stimme hören. Und dann die Erstarrung. Die Enttäuschung.
Wann ich Onkel Ben wohl wiedersehen werde? Auf dem Flughafen ist mir an seinem Schritt aufgefallen, wie alt er geworden ist. Ihn unbedingt in London besuchen.
Abendessen bei uns mit Valentina, Felice, Matilde und ihrem Mann.
Menü:
Makkaronitimbale mit Salbei
Seezungenfilet à la Diplomate
Crostini mit Leberpastete in Aspik
Salat Jockey-Club
Aprikosenmousse
Diese Gesellschaften sind eine willkommene Ablenkung von den endlosen Abenden mit Franco. Dann bin ich nicht allein mit diesem geräuschvoll kauenden Mund. Mit diesem Kopf, der sich so tief über den Teller beugt, dass er abfallen und im Gazpacho landen könnte. Heute Abend kein »Wie? Was hast du gesagt?«.
Ich habe Nonnas Kartons hierhergeholt. Franco hat das Gesicht verzogen, als er gesehen hat, dass ich dafür ein ganzes Zimmer in Beschlag genommen habe. Onkel Ben hatte mir vor seiner Abreise gesagt, ich würde nichts darin finden. »In den Kartons sind nur alte Briefe und alte Fotos.« Ich allerdings vermute, dass sie Schätze enthalten. Der Möbelträger, der mir glücklicherweise in der Diele über den Weg gelaufen ist, hat gesagt, dass der Rest der Möbel am Mittwoch gebracht wird. Um elf Uhr soll er zwei Bücherregale und einen Schreibtisch in Francos Kanzlei abliefern. Dann fahren sie zusammen zu Francos Eltern, um dort andere Möbel abzustellen (er konnte mir nicht genauer sagen, was). Erst ganz am Schluss kommen sie hierher. Diese Aufteilung ist unfassbar. Franco hat eine Plünderung organisiert.
Franco mit seinem Priesterrücken bringt mich zur Verzweiflung. Ich ertrage ihn nicht mehr:
seine kleinen, zwanghaften Gesten, wenn er seine Sachen zusammenlegt
seine Manie, sich laut zu schnäuzen, bevor er ins Bett geht
seine grauenvollen gestreiften Pyjamas, Geschenke seiner Mutter
sein geräuschvolles Ausspucken, wenn er sich die Zähne putzt
seinen weißen, schlaffen Körper
Um ihn zu meiden, suchte ich früher noch nach einer Entschuldigung und verzog mich aus dem Schlafzimmer, jetzt sage ich nichts mehr. Die Gewohnheit hat ein fast vertrautes Schweigen hervorgebracht. Ich gehe hinaus und setze mich an Arturos Bett, er schläft wie ein kleiner Engel. Sein Gesicht und sein Atem im Halbdunkel beruhigen mich. Wenn ich aus dem Zimmer komme, öffnet diese Hexe von Nurse unweigerlich die Tür und fragt leise, aber scharf: »Stimmt etwas nicht?«
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