Saira und Anna tragen lange weiße Kleider aus zarter Seide. Sandrine hat das Gefühl, als hätten sie bereits vor ihrer Anreise von diesem Ereignis gewusst und nur sie nicht eingeweiht. Zum Glück hat sie eine dünne weiße Baumwollhose mit eingepackt. Zu der trägt sie ein einfaches, weißes Top. Nicht gerade der Inbegriff von Romantik und Eleganz, doch sie hat den Eindruck, dass dieses Outfit zu ihr passt. In der hoteleigenen Boutique hat sie tatsächlich noch eine weiße Krawatte erstanden, die sie locker um den Hals gewickelt zu dem Oberteil trägt. Sie mag hier nicht die typische Weibchennummer abziehen. Darin sind ihre beiden Freundinnen eh viel besser. Die sind denn auch schon beim Eintreten von zwei Herren umringt, die extra aus den Staaten angereist sind, um einmal in ihrem Leben im Palace Hotel abzusteigen. Sandrine hasst Amis, erst recht die von der Sorte Charming Idiots.
Mit einem Glas Sekt in der Hand, in dem eine weiße Jasminblüte schwimmt – Bier wird heute leider nicht ausgeschenkt –, schaut sie sich unter den Gästen um. Es ist eine illustre Schar aus aller Herren Länder. Dass sie alle in Weiß gekleidet erscheinen, verleiht dem Ganzen in der Tat einen sehr feierlichen Charakter. Sie wirken vornehm und so, als könnten sie sich benehmen, was gewiss bei näherem Betrachten auf die wenigsten zutrifft. Sandrine möchte nicht wissen, womit die alle das Geld verdient haben, das es ihnen ermöglicht, hier zu sein. Eigentlich interessieren sie all diese Reisenden kaum. Sehnsüchtig sucht sie mit ihren Augen nach ihm, dem schönen Fremden.
Nicht nur Bestuhlung und Tischdecke sind weiß. Es wird nur auf weißem Porzellan serviert. Auch die Speisen sind dieser Farbe angepasst. Es gibt weißen salzigen Lassi. Bei den immer noch warmen Temperaturen ist dieses Joghurtgetränk angenehm erfrischend. Saira und Anna haben nach ihren Flirts wieder neben Sandrine Platz genommen. Sie erläutern ihr, was es alles zu essen und zu trinken gibt. Natürlich gibt es Reis, heute Abend mit Jasmin gewürzt. Der Blumenkohl mit Kokosraspeln in Kokosmilchsauce erinnert nur noch von Ferne an das, was Sandrine zu Hause als Blumenkohl kennt. Weiße Fischfilets werden in Sahnesauce mit Kreuzkümmel und Anis serviert. Auch wenn Sandrine das ein bisschen affig erscheint, dass wirklich alles in Weiß gehalten ist, so muss sie doch gestehen, dass die Tafel ein schöner Anblick ist und dass sie sich auch nach den Bergen von Speisen noch angenehm leicht fühlt. Das Mahl endet mit einem Reisschnaps, ebenfalls weiß.
Immer wieder hält sie nach ihm Ausschau. Offensichtlich hat er es sich anders überlegt und kommt also nicht zu diesem Dinner. Ihre Enttäuschung kann sie nicht ganz vor den Freundinnen verbergen, die völlig aus dem Häuschen sind und dem Dinner diverseste poetische Namen zu geben versuchen: Sinfonie in Weiß, Mondscheinflüstereien, Nights in white satin. Die Erwähnung des letzten Namens lässt Sandrine an das berühmte Lied von den Moody Blues denken. »Nights in white satin – never reaching the end.« Am liebsten möchte sie laut »Oh, I love you« mit der Band singen, wenn das nicht so absolut kindisch, kitschig und lächerlich wäre. Dieses ganze Weiß um sie herum muss irgendwie ihr Hirn vernebelt haben. Besser sie geht jetzt, bevor sie am Ende noch anfängt loszuheulen und den Mond anzujaulen.
Gerade als sie sich von den beiden Freundinnen verabschieden will, sieht sie ihn auf der Terrasse erscheinen. Natürlich trägt auch er Weiß. Einen weißen, eleganten Herrenanzug mit kleinem Kragen, der ihm ausgesprochen gut steht. Überhaupt sieht er an diesem Abend noch besser aus als bei dem Danceoke-Vergnügen. Er wird von allen Seiten begrüßt, viele scheinen ihn zu kennen, was er mit einer gewissen Bescheidenheit über sich ergehen lässt. Saira tuschelt mit ihrem männlichen Sitznachbarn und flüstert Sandrine dann zu: »Das ist der Besitzer des Palace Hotels, ein stinkreicher Typ. Ihm gehört hier die halbe Gegend.«
Tatsächlich hält er eine kleine Ansprache, begrüßt alle seine Gäste und bedankt sich, dass sie ihm die Ehre erweisen, sein Hotel zu besuchen und dass sie sich alle bereit erklärt haben, mit ihm gemeinsam in diesen Traum von Weiß einzutauchen. Im weißen Licht würden sich alle Farben versammeln, seien alle Gegensätze aufgehoben. Es sei zugleich die Farbe der äußersten Fülle und der äußersten Leere. So paradox wie das Leben. So rätselhaft wie die Kunst. Gerne lädt er die Gäste ein, nach diesem Dinner auch seine Ausstellungsräume zu besuchen. Er sei ein Freund der Kunst. Eine seiner besten Freundinnen widme sich vor allem der erotischen Kunst und habe einige ganz außergewöhnliche Skulpturen aus weißem Marmor geschaffen. Er würde sich glücklich schätzen, auch sie heute hier begrüßen zu dürfen und gemeinsam mit allen Anwesenden deren Ausstellung hier im Palace Hotel eröffnen zu können.
Neben ihm erscheint eine ungewöhnlich große Frau, die ihn bei Weitem überragt. Sie trägt ein langes, glänzendes, weißes Gewand, dessen Schleppe auf dem Boden hinter ihr her schleift. Ihr Kopf ist umrundet von langem weißen Haar, das ihr zugleich etwas Hexenhaftes als auch etwas Engelsgleiches verleiht. Sandrine spürt ihre Eifersucht wie einen Stich in ihrem Herzen. »Ob er mit der etwas hat? Eine Künstlerin?« Daneben nimmt sie sich als Fachangestellte in einem Logistikzentrum doch sehr bescheiden und kleingeistig aus. Wieder würde sie am liebsten das Weite suchen. Dass sie nachts von diesem reichen Mann geträumt hat, kommt ihr jetzt ziemlich peinlich und überheblich vor. »Was bildet sie sich da eigentlich ein? Was will so einer schon von ihr?«, arbeitet es in ihr.
»Das möchte ich sehen, was die für erotische Kunst macht?« Anna packt Sandrine am Ellenbogen, sodass diese sich gar nicht wehren kann und zieht sie mit sich Richtung Ausstellungshalle, den Menschenmassen nach, die sich jetzt alle auf den Weg machen. »Wer weiß, was wir da für neue Inspirationen bekommen …«, flüstert ihr die Freundin ins Ohr. Sandrine fühlt sich gerade nur dumpf und weit von irgendwelchen Inspirationen entfernt. Hatte sie mal irgendwo Lust, so ist ihr die aktuell komplett vergangen. »Kann das sein, dass dich dieser wirklich reiche, gut aussehende Mann bei unserem Tanz-Event angesprochen hat?! Täusche ich mich oder war das wirklich so?« Oh, Mist. Anna hat also mitbekommen, dass dieser schöne Fremde Sandrine an der Bar kontaktiert hat. »Ja, ja, da hat mich irgend so ein Typ angesprochen. Aber der war das bestimmt nicht. Was will so einer wie der schon in einer Danceoke-Location?« Dass Sandrine auch immer so rot anlaufen muss, wenn sie lügt. Anna und Saira schauen sie an, haben sie offensichtlich durchschaut und wissen nur zu gut, dass es sich um den gleichen Mann handelt. Warum auch immer der in der vergangenen Nacht in der Disko war.
»Wir finden, du solltest ihn ansprechen.« Verschwörerisch schauen sie Sandrine an und es ist klar, dass sie keine Ruhe geben werden. »Und wie stellt ihr euch das vor? Der ist hier umringt von Menschenmassen und von wahnsinnig genialen Künstlern. Soll ich etwa zu ihm gehen und ihm sagen: He, ich möchte Ihnen etwas von den Vorteilen unserer neuen Logistik-Zentrale erzählen? Das wird ihn bestimmt brennend interessieren.« Anna fährt nun höchst anzüglich mit ihrer Zunge über ihre Lippen. »Ich glaube nicht, dass er sich mit dir unterhalten will.« Ich mich auch nicht mit ihm, denkt Sandrine, schweigt aber lieber ihren Freundinnen gegenüber. In herrscht ist eine schier unerträgliche Mischung von Hilflosigkeit, Wut und absoluter Geilheit vor, die sie fast zerreißt. Am schlimmsten ist diese Prise von romantischer Liebestrunkenheit, die sich auch noch obenauf gesetzt hat.
11.
»Marble Arch« nennt sich die Ausstellung, zu der die drei mit allen anderen gehen. Marmorbogen. Die Formen, die die Künstlerin aus Marmor geschaffen hat, sind sehr stilisiert und erinnern entfernt an menschliche Körper. Abgerundete, weiche, glänzende Gestalten laden den Betrachter ein, sich im Miteinander und Ineinander verschiedener Steinskulpturen zu verlieren. Der große Marmorbogen, der der Ausstellung den Titel verleiht, überragt deutlich die anderen Kunstwerke. Er erinnert an einen weiblichen nach hinten gebogenen Leib. Der Oberkörper des weiblichen Wesens zerfließt wie eine große Lache auf dem Boden, hingegeben, ekstatisch. Zwischen das, was an zwei Beine denken lässt, schiebt sich eine lange runde Form, an deren Ende eine runde Kugel thront, die dementsprechend an eine prall gefüllte Eichel erinnert.
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