Sandrines Oberkörper sinkt ermattet bäuchlings auf den Boden. Sie kann nicht mehr. »Das sieht man, dass du die magst. Hast du die letzten drei Jahre auch noch was anderes gemacht als diese Kobra?« Saira und Anna liegen immer noch mit den Beinen und dem Becken auf dem Boden und heben Arme und Oberkörper in die Höhe. Sie wirken entsetzlich entspannt. »Ist gut für die Muskulatur des unteren Rückens.« Anna lächelt sie an. »Kann man gut beim Sex gebrauchen.« Dass die beiden immer wieder Anspielungen machen müssen in Richtung Sex. Kann Sandrine gar nicht verstehen.
Als sie alle zusammen eine Position einnehmen, die sich offensichtlich Schmetterling nennt, werden die Bemerkungen noch krasser. »Hilft, das Becken weiter öffnen zu können«, flüstert ihr dieses Mal Saira zu. »Kann der Schwanz noch tiefer in dich eindringen.« Sandrine presst die beiden Fußsohlen aneinander, zieht sie in Richtung Becken und versucht, die Knie ein wenig weiter Richtung Boden zu bringen. Ihre Freundinnen sitzen beide kerzengerade in dieser Position da. Deren Knie ruhen entspannt auf dem Boden, während Sandrine sich um jeden Millimeter abmüht, den die Knie der Yoga-Matte näher kommen könnten. Sie bleiben jedoch aufrecht und weit vom Boden entfernt.
»Ich dachte, ihr betreibt Yoga, um wahnsinnig spirituelle Erfahrungen zu machen. Und jetzt stellt sich heraus, dass es bei all dem nur um Sex geht …« Saira hat weiter die Beine weit gespreizt, hält ihre beiden Füße, deren Sohlen fest aneinandergepresst sind und beugt nun auch noch den Oberkörper nach vorne und legt ihn auf den Beinen ab. Unfassbar. Sandrine würde auseinanderbrechen in dieser Position. »Was heißt hier NUR Sex? Klar geht es um Sex. Und um Spiritualität. Beides.« Mit einem Lächeln auf den Lippen und offensichtlich tiefenentspannt, antwortet ihr die zusammengefaltete Saira.
»Soll ich dich wieder auseinanderfalten?« Sandrine kann sich nicht vorstellen, dass es möglich ist, alleine aus dieser Position herauszukommen. Saira streckt ihre Arme in die Länge und kommt dann mit dem Oberkörper wieder in eine sitzende Position, faltet dann selbstständig ganz langsam und erstaunlicherweise ohne schmerzverzerrtes Gesicht ihre Beine wieder auseinander, streckt sie vor sich aus. »Nicht nötig. Fühlt sich geil an.« Sie schaut lachend Sandrine an, streift mit ihren Händen genussvoll über ihre langen Beine. »Noch nie was von Tantra gehört?« Sandrine muss gar nicht antworten. Ihre Unkenntnis steht ihr offensichtlich ins Gesicht geschrieben. »Oder vom Kamasutra?« Auch bei dieser Frage kann sie nur in Unwissenheit den Kopf schütteln. »Na, dann wird’s Zeit!«
Als Sandrine am Ende des Unterrichts am Boden liegt, ist sie nicht ganz sicher, ob ihre Knochen noch an der Position sind, wo sie hingehören und ob sie noch alle miteinander verbunden sind. Sie hätte nie gedacht, dass es möglich ist, den eigenen Körper auf so abgefahrene Arten und Weisen zu verbiegen und zu verdrehen. Bei dem, was ihre Freundinnen den Baum nannten – »eine ganz einfache Asana« –, wurde ihr dann bewusst, dass es auch mit ihrem Gleichgewichtssinn so eine Sache ist. Sie kann sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal so lange auf einem Bein gestanden hat. Und dann auch noch die Arme nach oben strecken, entspannt ins Becken atmen. Das Becken spürt sie jetzt besonders. »Ist das der Grund, weshalb das Ganze mit Sex zu tun haben soll? Dass es beim Yoga auch um Sex geht …!«, schüttelt sie leicht irritiert den Kopf. Sie dachte immer, dass all diese Yoga-Fanatiker hoffnungslos unerotisch, unsexy und frigide sind. Tantra? Kamasutra? Zwar hat sie davon gehört, kennt sich damit allerdings nicht wirklich aus.
Während sie eigentlich ruhig und ohne Gedanken auf dem Boden liegen sollte – das nennt sich die Totenstellung, wurde ihr gesagt –, kreisen ihre Gedanken wie wild um das neu Gehörte. Wieso machen ihre Freundinnen ständig Bemerkungen über Sex ihr gegenüber, fragt sie sich. Sie hat mit denen doch noch nie über Sex gesprochen, schon gar nicht über ihr eigenes Sexleben. Was die sich da wohl denken? Ob die wohl selbst Sex haben? Sie hat immer gedacht, dass die beiden halt verheiratet sind und eben keinen Sex mehr haben. Deshalb wollte sie bislang noch nie heiraten. Heiraten ist einfach unsexy. Am Ende haben die mehr Sex als sie mit ihrem Dirk je hatte, OBWOHL sie den nicht geheiratet hat, befürchtet sie jetzt.
»In sexueller Hinsicht war Dirk einfach ein Loser, ein totaler Loser.« Wenn’s hoch kam, bekam der einmal pro Woche einen hoch, hat den dann in Sandrine reingesteckt, sich maximal zwei Minuten in ihr bewegt, dann abgespritzt und das war’s, erinnert sie sich. Da kann sich Sandrine noch ganz andere Sachen vorstellen. Ganz andere.
9.
Nach der Yoga-Stunde gibt es eine Suppe. Linsen. Gar nicht so schlimm. Außerdem hat sie höllisch Hunger nach dem ganzen Gedehne und Geschiebe. »Habt ihr beiden etwa immer noch Sex mit euren Männern?«, fragt sie rundheraus ihre beiden Freundinnen in dem kleinen Restaurant, das zu dem Yoga-Studio gehört. Die beiden schauen sich an, schauen dann Sandrine an und platzen förmlich vor Lachen. »Was hast du denn gedacht? Dass wir mit dem Ehevertrag einen Klosterbeitritt unterschrieben haben?« Anna fährt sich mit der Zunge über die Lippen, um Reste der Linsensuppe zu entfernen. »Das ist doch das Tolle am Verheiratetsein. Dein Süßer schläft mit dir in einem Bett, wohnt mit dir in einer Wohnung und ihr könnt viel öfter und viel leichter als jemals zuvor Sex miteinander haben.« Sandrine schaut jetzt auch Saira an. »Nicht nur im Bett oder auf dem Sofa oder am Küchentisch, unter der Dusche, im Hauseingang …« Anna ergänzt: »Auch in der Garage, auf der Motorhaube, in den Gartenstühlen oder auf der Kinderschaukel.« Sandrine steht der Mund offen. Hat sie das richtig verstanden, was ihre beiden Freundinnen ihr da gerade mitteilen? »Wollt ihr sagen, ihr habt an all diesen Orten Sex mit euren Männern?« Die beiden schauen sich einvernehmlich an, nicken und blicken dann rüber zu Sandrine, der mittlerweile zum Heulen zumute ist. »Wollt ihr mir sagen, dass ihr all die Jahre geilen Spaß hattet, während ich mit meinem Dirk auf dem Sofa saß?« Ein wenig mitleidig nimmt Anna nun Sandrines Hand in ihre.
»Ehrlich gesagt waren wir beide ziemlich erleichtert, als du mit diesem Schlappschwanz Schluss gemacht hast.« Sandrine nimmt ihre Hand wieder an sich. Sie ist sprachlos und wütend zugleich. Essen kann sie jetzt überhaupt nichts mehr und schiebt den Rest Linsensuppe von sich fort. »Ihr habt wild gevögelt und ich hab’ Fernsehserien geschaut?« Wieder nicken beide. Fragend schauen sie sich an. »Deswegen haben wir dir doch den Masseur geschickt …« Sandrine kann plötzlich nur noch stottern. »Wollt ihr mir sagen, dass es bei der Massage gar nicht um meine Kopfschmerzen ging?« Die beiden schütteln verneinend die Köpfe, schweigen. »Ihr wusstet, dass der nicht nur meine Füße …?« Auf einmal fällt es Sandrine wie Schuppen von den Augen. »Habt ihr ihm etwa gesagt, dass er’s mir besorgen soll?« Langsam und zaghaft nicken die beiden bejahend. »War’s denn schön?«, fragen sie Sandrine unisono. »Es war verdammt schön!« Jetzt kann Sandrine nur lachen, über sich, über die Situation und ihre Blödheit. »Da habe ich wohl noch einiges von euch zu lernen.«
10.
Die große Terrasse des Palace Hotels ist hell von Kerzen erleuchtet. Um sie vor dem Wind zu schützen, stehen sie in weißen filigran gearbeiteten Laternen. Der helle Marmor schimmert geheimnisvoll im Kerzenschein. Die Bediensteten haben ihren roten Turban heute durch einen weißen ersetzt. Die vielen Besuchern Platz bietende Tafel ist mit langen, weißen Tüchern behängt. Auch die Bestuhlung ist in dieser Farbe gehalten. Alle Gäste wurden gebeten, ausdrücklich nur in heller Kleidung zu erscheinen. Alles erstrahlt in weißem, hellen Licht. Ein magischer Kontrast zu dem dunklen Firmament. Auch das Wasser des Sees liegt dunkel und geheimnisvoll um die Insel des Hotels herum, schluckt jedes Licht und lässt den weißen Tisch und die weißen Gäste umso mehr erstrahlen. Die Gesichter leuchten, besonders die Augen.
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