Hier übrigens haben wir auch den Kern der politischen Brisanz des neuen Braendle-Buches im heutigen Österreich, zu der der Autor vor allem im sechsten Kapitel mit seinen autonomen und eigensinnigen Kommentaren zur Lage im Schüssel-Haider-Land manches beiträgt. Wie immer man seine bedächtig abwägenden Situationsbewertungen beurteilt – am Ende dieser Romanbiografie ist das durch den Konkurs angeknackste Ich des Helden wieder einigermaßen intakt, und Fritz Molden erscheint dem Autor wie dem Leser als ein fast weiser alter Mann, dem der Respekt schwerlich zu versagen ist. »Besuchen Sie mich alsdann, und an Unterhaltung soll es Ihnen gewiss nicht fehlen«, sagt er am Schluss – und dass Braendle für diesen Schluss eben dieses Zitat gewählt hat, ist ein gelungener, weil in vielerlei Hinsicht passender Griff in die Trickkiste. Denn diese Worte stehen auch im letzten Absatz eines Buches, dessen Affinitäten zu Christoph Braendles brillantem neuen Werk das Thema einer germanistischen Magisterarbeit sein könnten. Es heißt: »Wunderbare Reisen zu Wasser und zu Lande, Feldzüge und lustige Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen.« War der eigentlich ein Held?
Christoph Braendle: Fritz Molden – Ein österreichischer Held. Romanbiografie. Graz/Wien/Köln 2001: Styria Verlag. 207 S.
Who will stop the rain? Christoph Braendles Roman Der Meermacher
»When the rain comes / they run and hide their heads«, sangen einst die Beatles. Das war noch relativ harmlos. Wenn es aber immer weiter regnet? »Who will stop the rain?« heißt, nicht mehr ganz so harmlos, ein fast genau so alter Song der heute weithin vergessenen Kultband Creedence Clearwater Revival. Das Regenthema ist natürlich keine Erfindung der Woodstockgeneration. Es ist älter, viel älter auch als das berühmte Weltende (1911) des unglücklichen Dichters Jakob van Hoddis. In seinem Achtzeiler fliegt dem Bürger nicht nur der Hut vom spitzen Kopf, dort heißt es auch: ». Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut / Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen / An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken …« Das Thema lautet schlicht und ergreifend: Weltuntergang, Apokalypse, Unterabteilung Sintflut oder auch, etwa im Titel der heute kaum noch aufgeführten Dramen von Max Dauthendey (1893) und Alfred Kubin (1924), Sündflut . Eine der ganz großen mythischen Erzählungen der Menschheit – und damit auch ein weites Feld für die Kunst. Selbst wenn man den Blick auf die deutschsprachige Literatur seit 1945 verengt, findet man Beachtliches: Stefan Andres hat dieses alttestamentarische Riesenthema literarisch gestaltet, Hugo Loetscher, Wolfdietrich Schnurre, Herbert Achternbusch, Urs Widmer, Günter Kunert und noch viele andere Schriftsteller – und jetzt auch Christoph Braendle. Er publizierte, pünktlich zum Beginn der globalen Finanzkrise, einen Roman, in dem es zentral um deren Ursachen geht und der konsequent auf das Sintflutszenario hinausläuft. Fast niemand beachtete ihn. Auch nachdem es in der Zeit eine fast euphorische Besprechung gab, geschah wenig. In einer »zeitlos schwebenden Prosa« verfasst, komme dieser jüngste literarische Weltuntergang direkt »charmant« daher, meinte die Frankfurter Allgemeine Zeitung . Gute Literatur offenbar, dieser Meermacher , aber bisher ohne größere Wirkung. Ob man Braendles außergewöhnliches, packendes und umwerfend geschriebenes Buch erst richtig entdecken und würdigen wird, wenn seine Prophezeiung eingetroffen sein wird? Aber wer sollte dann …?
»In diesem Moment fielen die ersten Tropfen vom Himmel. Das große Regnen begann.« Ein recht normales Ehepaar mittleren Alters sitzt, nicht gerade vor Glück strahlend, in seinem Einfamilienhaus mit dem schönen Namen »Zur Augenweide«. Es muss doch noch etwas anderes im Leben geben als dieses Haus, diese Siedlung und vielleicht auch diese Ehe, sinniert Gustav. Wenn der anvisierte Südseeurlaub an Gerlindes blöder Flugangst scheitert und man die sagenhaften Korallenriffe niemals zu Gesicht bekommen wird, dann muss man seiner »Lust auf Meer« eben im von Aquarien vollgestellten Postwirt nachgehen. Nebenbei malt sich Gustav dort bei mehreren Schoppen im Detail aus, wie das Meer, das er noch nie gesehen hat und wahrscheinlich nie sehen wird, zu ihm nach Hause kommen könnte. »Was brauchen Sie die Südsee?«, fragt ihn ein Postwirtaquarist. »Für mich jedenfalls ist eine Woche Urlaub, wenn ich mich hier beim Postwirt eine Stunde lang zu den Fischen setze.« Das ist es doch: Erst einmal ein Aquarium, mit Zierfischen! Und schon nimmt die Sache ihren durchaus unerwarteten Lauf – Gustav wird, Schritt für Schritt, zum Meermacher: »Wenn ich Meer will, geb ich keine Ruhe, bis ich Meer habe, dachte Gustav.«
Den Literaturkritiker Jens Jessen beeindruckte, mit welch beachtlichem künstlerischen Geschick und Können der Autor, dieser eher schlichten Ausgangsidee folgend, »das ganze Leichtfertigkeitspanorama unserer Wirtschaftsweise« entfaltet. Denn nun tritt Gustavs Schulfreund André auf, ein erfolgreicher Unternehmer und Projektrealisierer von heute (oder vielleicht doch schon von gestern?): »Alles sei möglich, sagte er, vor allem schaffe Gustavs Meer Reichtum in eine Gemeinde, die im Moment noch ganz und gar verschlafen sei.« Kurzum, André und seine Assistentin, die attraktive Frau Schneider, übernehmen die Sache, und was nun geschieht, macht alle braven Gedanken des naiven Gustavs »mit einem Schlag zunichte«. Denn André wollte schon immer »mehr haben«, und Gustavs Idee scheint ihm ganz im Trend der Zeit zu liegen: »Noch hätten viele nicht den Mut, ihre Abneigung gegen diesen allgemeinen Zwang zum Fremden laut zuzugeben, noch wagten viele nicht, etwas Vernünftigeres anzufangen mit der Zeit und zum Beispiel zu Hause zu bleiben.«
Braendles spannende Geschichte kennt manchen Umweg und läuft doch, das erwähnte »Leichtfertigkeitspanorama« virtuos entfaltend, vollkommen folgerichtig ab. Die Vision vom Meer vor der Haustür wird gnadenlos umgesetzt, mit vielen fiesen Tricks einschließlich der sozusagen alltäglichen Brutalität, zu der ein der nackten Profitgier kaum Schranken setzendes Wirtschaftssystem eben in der Lage ist. »Mein Traum, dachte er, hat sich in einen Albtraum verwandelt.« Während es permanent weiterregnet, wird die Gemeinde Schritt für Schritt ruiniert, mit ihr das Gasthaus und dessen renitenter Wirt, der seinen Widerstand sogar mit dem Leben bezahlen muss. Doch das Ende aller ist nicht mehr weit. »Die apokalyptischen Reiter sind unterwegs«, fasst ein Postwirtgast die Lage zusammen. »Ich sage nur Hochmut, ich sage Hybris, ich sage Vermessenheit. Immer wollen wir mehr. Nie haben wir genug. Dafür kriegen wir jetzt unser Meer, aber es ist viel mehr Meer, als wir wollten.«
Kein Weglaufen hilft mehr und auch nicht die Arche, die am Ende ausführlich ins literarische Spiel kommt – diese Katastrophe ist unwiderruflich die letzte. Gustav sieht in der Tat zum ersten Mal das Meer, das so ruhig und still zu sein scheint, »dass es wie gefroren wirkte«. Aber es ist kein irdisches Meer mehr, »weil über dem Wasser zwei Sonnen hingen«. Ob Franz Kafka sich den Meermacher vorgestellt hat, als er vom Buch als einer Axt für das gefrorene Meer in uns gesprochen hat? Wir wissen es nicht. Aber es wäre gut möglich.
Christoph Braendle: Der Meermacher. Roman. Weitra 2008: Verlag Bibliothek der Provinz. 230 S.
Schweizer Original aus Wien. Christoph Braendle – Literat mit vielen Gesichtern
Wahrscheinlich ist Christoph Braendle in Österreich bekannter als in der Schweiz. Im vergangenen Jahr hat er den Band Österreich ist schön, oder? Eingewandert aus der Schweiz herausgegeben, und seit einem Vierteljahrhundert wohnt er mitten in Wien, sofern er nicht in Marokko ist oder sonst wo auf der Welt – im Grunde nämlich ist er ein passionierter Weltenbummler, trotz oder mit Familie. Braendle hat als Journalist und Reporter gearbeitet, er hat skurrile Theaterstücke und glänzende Essays verfasst, und er hat eine beachtliche Menge von literarischen Büchern publiziert, unglücklicherweise in ganz unterschiedlichen Verlagen. Andererseits mag das auch seine innere Logik haben, denn keines seiner Bücher gleicht dem anderen. Gemeinsam ist ihnen der wache, neugierige Blick auf die Welt, die immer wieder verblüffende Originalität des jeweiligen Themas und der dafür gewählten literarischen Form und natürlich die hohe sprachliche Qualität, die ihren Autor, im Unterschied zu manch anderen Schriftstellern unserer Zeit, als ungewöhnlich vielseitigen und in zahlreichen Genres versierten Literaten erscheinen lassen. Man muss nicht alles von ihm kennen, um begeistert zu sein – seinen meisterlich erzählten Roman Der Meermacher aber schon, einen von der ersten bis zur letzten Seite packenden Text. Braendles Reportagen aus der Mitte der Welt sollte man ebenfalls lesen, und auch sein vorletztes Buch Das Wiener Dekameron , das Michael Pfister unlängst als »ein vergnügliches Buch voll charmant-perverser Betthupferl für Liebeslüsterne« charakterisiert hat. Die Liebe und die Lust – ein Themenkomplex, der diesen Autor stets begleitet hat und ihn nicht loslässt. Was auch sein jüngster Roman beweist.
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