Das Bewusstsein bekommt diesen Vorgang, diesen Weltenwechsel, zunächst einmal nicht mit. Das Kind weiß weder etwas von Geburt noch von Tod – zum Glück, denn wenn es es wüsste, würde es sich wohl, ähnlich wie der erwachsene Mensch vor seinem Sterben, entsetzlich davor fürchten und mit Macht dagegen ankämpfen. Da es aber noch reines Naturwesen ohne ein Bewusstsein seiner selbst ist, geht es, so gut es geht und entsprechend seinem ererbten Temperament, mit dieser gewaltigen Naturbewegung mit, und viele kämpfen einen heroischen Kampf ums Überleben.
Danach findet es sich plötzlich in einer ganz anderen Welt wieder – wobei es, wie gesagt, ungefähr ein Jahr dauert, bis der Weltenwechsel im Bewusstsein des Kindes angekommen ist. Nicht selten, nämlich bei sehr schweren, traumatischen Geburten, geschieht dieses Ankommen in der neuen Welt nur partiell. Wir sprechen dann von einem Geburtstrauma, was bedeutet, dass der betreffende Mensch nicht ganz realisiert hat, dass der Geburtsvorgang und der Kampf ums Überleben vorbei sind und er tatsächlich lebt. Er weiß es später zwar kognitiv, aber er kann es nicht fühlen und seine Lebendigkeit nicht spüren, seine Gefühle und oft auch Teile seines Körpers sind wie eingefroren 27.
Äußerlich sind solche Menschen in der Regel dünn bis hager, haben eine feste und, vor allem im Brust- und Bauchbereich, angespannte Muskulatur und sind oft sehr zäh und leistungsfähig – sie haben ja eine lebensgefährliche Situation überlebt, und wenn es dabei nicht zu schweren körperlichen Schäden gekommen ist, hat der Körper daraus eine Kraft gewonnen, die Menschen mit einer leichten Geburt nicht haben. Das ist die andere Seite eines Traumas, es verleiht oft eine besondere Kraft. Aber das Sinnliche und Emotionale ist Menschen mit einer solchen Primärerfahrung meist nicht geheuer, und viele kennen es gar nicht. Die Tatsache des Lebendigseins ist im sensorischen Bereich ihres Bewusstseins nicht angekommen, denn dieser ist unter dem Stress der Geburt „abgeschaltet“ gewesen. Manche leben wie Automaten und funktionieren meist sehr gut, sind sich selbst aber fremd. Man hat seine Geburt – und damit sein Überleben, sein Ankommen in einem eigenen Körper mit eigenen Gefühlen – im wörtlichen Sinne nicht er-innert, nicht nach innen, in sein volles Bewusstsein, genommen 28. Im Lebensintegrationsprozess zeigen sich solche perinatalen Traumata sehr deutlich, und sie lassen sich recht einfach lösen. Für die Betroffenen fühlt sich dies immer so an, als ob erst jetzt die Geburt vollendet und sie im Leben angekommen wären.
Susanne ist eine ebenso schöne und wie kluge und sensible junge Frau. Heute ist sie Anfang vierzig, als sie zum ersten Mal zu mir kam, war sie etwa dreißig. Damals bekam sie immer Entzündungen an der Scheide, wenn sie Geschlechtsverkehr hatte. Sie hatte einen Freund, den sie mochte und der sensibel mit ihr umging, aber die Entzündungen kamen immer wieder, obwohl sie auch den Sex mit ihm mochte. Anfangs habe ich versucht zu schauen, ob es einen Hinweis gibt, womit das Symptom zusammenhängt, aber nichts gefunden, was Sinn machte. Dann haben wir mit dem LIP gearbeitet. Es war zu Beginn ziemlich schwierig, wir sind nie über die Geburt hinaus gelangt. Sie war aber so fasziniert von der Arbeit, dass sie immer wieder kam und unsere erste Ausbildung absolvierte, obwohl zu dieser Zeit ihr gesamtes Leben auseinanderbrach. Neben der Beziehung funktionierte auch ihre Arbeit (sie war Physiotherapeutin) nicht mehr. Schließlich erzählte sie mir ihre Geburtsgeschichte: Sie wurde mit sieben Monaten per Kaiserschnitt aus der Mutter herausgeholt, weil diese einen lebensgefährlichen Tumor hatte und operiert werden musste. Susanne kam in den Brutkasten und ist ihrer Mutter erst mit drei Monaten wieder begegnet. Jetzt war klar, warum der Prozess im LIP immer bei der Geburt steckenblieb – das Kind war innerlich noch nicht bereit für das Leben. Ebenso war die erwachsene Susanne innerlich noch nicht bereit für das Leben, obwohl sie äußerlich alles hatte, was sie für ein gutes Leben brauchte.
Allmählich – sie brauchte für alles viel Zeit und ich habe ganz vorsichtig mit ihr gearbeitet – konnte sie sich sowohl im LIP als auch im tatsächlichen Leben ans ganze Leben herantasten und schließlich auch ganz hineingehen. Sie zog in eine andere Stadt, ging beruflich in eine neue Richtung und hat heute eine leitende Position im naturheilkundlichen Bereich. Über das Symptom, dass sie einst zu mir geführt hatte, haben wir zuletzt nie mehr gesprochen – ich nehme an, es hat sich erledigt.
Vieles, was sich im späteren Leben als belastendes Muster, Verhaltensstörung, psychisches Problem oder auch als scheinbar rein körperliche Krankheit äußert, hat in Ereignissen vor, während und kurz nach der Geburt seinen Ursprung. Dies gilt besonders für Krankheiten und „Störungen“, die in der Jugend – besonders nach dem Ende der Pubertät, also etwa mit 16-18 Jahren – auftreten, denn die Jugend ist, wie wir später sehen werden, eine zweite Geburt, der Übergang von der Geborgenheit in der Familie in die Offenheit der Welt. Damit treten alle Themen, die sich rund um die Geburt für uns gestellt haben und dort nicht integriert und ins Bewusstsein aufgenommen werden konnten, wieder hervor, und nicht selten führt dies zu rätselhaften Krankheiten, etwa zu Essstörungen oder autoaggressiven Verhaltensweisen. Deshalb frage ich immer nach der Geburt, wenn mir Eltern von solchen Symptomen bei ihren pubertierenden Kindern berichten oder ältere Jugendliche selbst damit zu mir kommen, und nicht selten werde ich da auch fündig.
Die „Einheit“ mit der Natur – Das symbiotische Bewusstsein
Die Anfänge liegen im Dunkeln, in der Dunkelheit des Mutterleibes. Der Mutterleib war die Erde, die Natur, in die noch kein Licht fiel. Die Abwesenheit von Licht war die Abwesenheit von Bewusstsein. Der Mensch existierte, aber er wusste noch nicht, dass er existierte. Er war schon, aber er wusste es noch nicht. Er wusste es so wenig wie ein Embryo oder ein Tier es weiß. Er und seine Welt waren eins. Er bewegte sich in ihr, konnte sie riechen und schmecken und hören und sehen, aber er wusste nicht, dass das, was er wahrnahm, seine Umwelt, seine Welt war, die Welt, in der er lebte, und er wusste auch noch nicht, dass er ein Mensch war. Oder war er noch gar kein Mensch?
Die in der frühen Kindheit der Menschheit entstandenen Mythen nennen diese Zeit die „Traumzeit“ oder den „Garten Eden“ oder das „Paradies“. Es war die Zeit vor der Zeit, die Zeit vor der Geburt des Menschen, die Zeit, als er noch nicht um sich wusste und damit als Mensch noch nicht geboren war oder, wie der Säugling, geistig noch ganz in der ursprünglichen Einheit mit der Natur lebte. Das ist die ursprüngliche Harmonie, von der uns die Geschichte vom Paradies erzählt, der paradiesische Urzustand.
Das Paradiesische ist die Dunkelheit, das Nicht-Wissen, die Einheit und die Geborgenheit im Schoß der Erde. Dies darf man aber nicht mit unseren Vorstellungen von Geborgenheit und Harmonie verwechseln. Denn diese Geborgenheit und Einheit bedeutete gleichzeitig das totale Ausgeliefertsein an die Erde und die Natur, eben so, wie auch ein wildes Tier der Natur, der umgebenden wie seiner eigenen, vollkommen ausgeliefert ist. Und auch so, wie ein Embryo seiner Umgebung, der Mutter, vollkommen ausgeliefert ist. Und wie der Embryo die Mutter nicht kennt, obwohl sie sein Ein und Alles ist, kennt auch der paradiesische Mensch die Welt, die Erde und die Natur, nicht, die zugleich sein Ein und Alles ist. In der Frühphase der Menschheit gibt es, wie beim ungeborenen Kind und beim Säugling, kein persönliches Bewusstsein, kein Gefühl eines Subjektes, das einer objektiven, von ihm getrennten Umwelt gegenübersteht. Der Urmensch lebt in Verschmelzung mit seiner Umwelt und der Gruppe, zu der er gehört. Ebenso wie der Fötus die Mutter nimmt er die Welt und die Gruppe um sich herum nicht als etwas anderes, von ihm klar Geschiedenes, wahr, und ohne sie ist er verloren und nicht lebensfähig.
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