Es gibt weder ein Ich noch eine Gruppe, beides ist im Bewusstsein eins, und es gibt auch keine Welt oder gar Um-Welt als etwas Getrenntes und Eigenes. Selbst zu sagen, der einzelne empfinde sich als Teil des Ganzen, wäre unzutreffend, da diese Aussage eine Unterscheidung zwischen dem Ganzen und seinen Teilen voraussetzt, die in dieser Stufe, ähnlich wie beim Fötus oder Säugling, noch nicht gegeben ist. Das Bewusstsein ist das einer Einheit, die von der Zweiheit noch nichts weiß. Dies gilt, über die „Geburt“ des Menschen hinaus, für alle frühen menschlichen Kulturen. Die Natur war göttlich, alles war beseelt, in allem zeigte sich ein Gott, und die Erde war die Mutter, mit der man in symbiotischer Einheit existierte. Selbst das Bild „Mutter“ für die Erde existiert in den Uranfängen noch nicht, denn es setzt schon die Trennung und den Verlust der Einheit und ein vages Gefühl von Zweiheit voraus.
Über die erste Stufe, um die es hier zunächst geht, wissen wir naturgemäß kaum etwas, ebenso wie wir keine bewusste Erinnerung an unsere Zeit im Mutterleib und die ersten zwei Lebensjahre haben. Was wir kennen, sind die überlieferten, in eine uns heute verständliche Sprache übertragenen Mythen verschiedener Völker, in denen diese ihren Ursprung (den Anfang der Menschheit, also quasi ihre Abstammung und ihre Geburt) imaginiert haben, die daraus entstandenen mythologischen Religionen und Rituale, deren Frühzeit man mit der Säuglingszeit vergleichen kann, sowie verschiedene Artefakte wie (Höhlen-) Zeichnungen, Statuen, sakrale Bauten oder geschnitzte Gebrauchsgegenstände, die zugleich sakralen Charakter hatten. Mit dem Auf kommen und den immer umfangreicheren Funden der Archäologie und zunehmend feineren Analysemethoden, besonders aber der Entdeckung zeitgenössischer Volksstämme, die abseits jeglicher Zivilisation noch in einer urzeitlich-mythologischen Welt leben, haben wir erst seit ganz kurzer Zeit begonnen, einige partielle Einblicke in diese hunderttausende von Jahren dauernde Frühzeit der Menschheit zu bekommen.
Seit Sigmund Freud vor etwa hundert Jahren das Unbewusste und dessen überragende Bedeutung für das menschliche Handeln entdeckt hat, fasziniert dies auch die Psychologie, soweit sie sich in der Nachfolge von Freud und, vor allen, Carl Gustav Jung sieht, haben wir es hier doch mit dem Unbewussten der Menschheit zu tun, aus dem sich die menschliche Seele erbaut hat und aus dem sich daher vielleicht wichtige Einsichten für das heutige Bewusstsein gewinnen lassen. So faszinierend und inspirierend manche daraus abgeleiteten Theorien sein mögen, so spekulativ erscheinen sie mir doch auch. Die überlieferten Mythen geben, zusammen mit anthropologischen Forschungen und archäologischen Funden, sicher eine Fülle von Hinweisen und partiellen Einblicken in diese Welt, aber deren Deutung ist ebenso vielfältig wie letztlich beliebig, und das liegt in der Natur der Sache.
Kürzlich habe ich im Internet eine Serie von Filmen entdeckt, die ein Chronist seit den 1950er Jahren über das gesellschaftliche Leben in meinem Heimatdorf gemacht hat. Das war in meiner Kindheit und Jugend, ich habe die Zeit bewusst erlebt, und es ist ein sehr überschaubares und kleines Dorf mit damals etwa tausend Einwohnern. Als ich mir die Filme anschaute, habe ich manches gesehen, das ich vergessen hatte, auch einige wenige Dinge, von denen ich gar nichts wusste, aber ich habe auch vieles vermisst, was mir in Erinnerung ist und für die damalige Zeit charakteristisch und damit zu deren vollem Verständnis wichtig erschien. Kurz gesagt: Die Filme geben nichts anderes wider als den Aspekt der Wirklichkeit, den dieser Chronist gesehen hat und der ihm aus irgendwelchen Gründen wichtig war (und auch davon nur den Bruchteil, den er mit der Kamera festgehalten hat, wenn er dazu Zeit hatte). Davon aufs Ganze, auf das Leben dieses Dorfes und das Bewusstsein seiner Bewohner zu schließen, würde völlig an der Wirklichkeit dieser Zeit vorbeigehen.
Genau das wird aber wahrscheinlich geschehen, wenn jemand in einigen hundert oder tausend Jahren diese Filme entdeckt, von größeren historischen Zeiträumen, wo die Menschen eine ganz andere Sprache sprechen (wenn sie überhaupt noch über Sprache kommunizieren) ganz zu schweigen. Er mag, wenn er gewissenhaft forscht, noch ein paar andere Quellen entdecken und das Mosaik ein bisschen erweitern, aber das Bewusstsein und die Wirklichkeit der 1950er und 1960er Jahre in Marmagen wird er nicht beschreiben. Wenn ich der Chronist gewesen wäre und diese Filme gemacht hätte, wäre etwas ganz anderes dabei herausgekommen, und wenn ich heute eine alternative Chronik aus meiner Erinnerung schreiben würde, käme wieder etwas anderes heraus, weil auch meine Erinnerung nur eine nachträgliche Rekonstruktion meiner tatsächlichen Jugend und natürlich auch, sofern sie dem tatsächlichen Geschehen entspräche, nur meine Sicht dieser Zeit wäre. Kurz gesagt: Aus den überlieferten Mythologien können wir herauslesen, was wir wollen, und unsere Deutungen sagen mehr über uns selbst als über die Wirklichkeit einer verschwundenen Zeit.
Ebenso wie dieser Dorfchronist erzählt uns der Mythos, soweit er überliefert und in Bildern, Statuen und anderen Gegenständen festgehalten ist, etwas über sich selbst und gibt uns einen sehr ausschnitthaften Blick auf etwas längst Vergangenes, das als Geschichte – und „Geschichte“ meint hier: als Erzählung – weiter wirkt und gewissermaßen lebendig bleibt. Darin liegt ihre Wirklichkeit. Man sollte sich aber hüten, daraus abzuleiten, was nun die tatsächliche (faktische) Wirklichkeit jener Zeit war.
Alles, was wir haben, sind Geschichten, die aus verschiedenen Perspektiven erzählt und aus wiederum anderen Perspektiven überliefert wurden und aus wiederum anderen Perspektiven heute gedeutet werden. Das gilt nicht nur für das mythologische Zeitalter, sondern für alles, was wir als „unsere Geschichte“ verstehen und erinnern, sei es das, was uns in Büchern über die Vergangenheit erzählt und in der Schule beigebracht wird, oder sei es das, was wir als unsere persönliche Geschichte (z. B. unsere Kindheit) im Gedächtnis haben.
Die Vertreibung aus dem Paradies
Das bedeutet beileibe nicht, dass diese Geschichten nichtig wären. Ganz im Gegenteil. Erstens erzählen sie, wie ausschnitthaft auch immer, etwas Wahres, wenn auch nie die ganze Wahrheit. Was mein Dorfchronist gefilmt hat, ist ja tatsächlich geschehen. Zweitens, und dies ist noch wichtiger, wirken sie, wie gesagt, als Geschichten heute fort und bestimmen damit unser Bild der Vergangenheit, und dieses Bild wirkt in uns. Es tut dies auch dann, wenn wir im wörtlichen Sinne längst nicht mehr daran glauben. Der jüdisch-christliche Mythos des Garten Eden, in dem alle Lebewesen in paradiesischer Harmonie miteinander leben, ist nicht nur ein religiöses Märchen, an das merkwürdigerweise die Christen (sowie Juden und Muslime) glauben, sondern er beschreibt eine innere Sehnsucht vieler Menschen, die sich durch die Utopien der Moderne bis hin zur Friedensbewegung und „grünen“ Weltbildern zieht. Die Vorstellung des Garten Eden als eine Art ewiges Sommerpicknick, wo Mensch und Tier (vom Reh bis zum Löwen) in einer vollkommenen Natur bei schönstem Wetter in vollkommener Harmonie beisammen sind, ist auch heute noch der Traum vieler Menschen – so sollte das Leben eigentlich sein (wobei niemand danach fragt, wovon der Löwe denn nun lebt, wenn er die Antilope nicht frisst).
Die andere Seite des biblischen Mythos ist die der Vertreibung aus dem Paradies. Der Mensch wird bestraft, weil er ungehorsam gegenüber Gott ist und zu viel wissen will, und muss sich nun seine Nahrung, die ihm bis dahin quasi in den Mund fiel, selbst suchen und sein Leben fortan „im Schweiße seines Angesichts“ erarbeiten und verdienen. Hier ist die Parallele zur menschlichen Geburt, mit der das automatische Versorgtsein endet und die Mühen des Lebens anfangen, unverkennbar. Die große menschliche Perspektive ist daher die Rückkehr ins Paradies, und diese Perspektive ist, wie gesagt, bei weitem nicht nur ein Traum der Christenheit, sondern durchzieht die meisten abendländischen Utopien bis hin zum Kommunismus, modernen politischen Konzepten wie dem eines „bedingungslosen Grundeinkommens“ und der modernen Idee der „Freizeit“. Im alltäglichen Leben finden sich Anklänge davon in vielen Werbebildern und -botschaften, etwa im Konzept des All-Inclusive -Urlaubs, wo man weder etwas tun noch bezahlen muss, sondern den ganzen Tag rumliegt und sich bedienen lässt.
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