Wir haben also drei Faktoren, die in der Entwicklung des Kindes bereits im Mutterleib zusammenkommen:
.erstens die Erbanlagen; dazu gehören auch die Familiengeschichten der Eltern;
.zweitens die von der Mutter ausgehenden und von außen auf sie einwirkenden Umweltbedingungen;
.und schließlich und als Wichtigstes das Dritte, unsere geistige Essenz, das, was wir wirklich sind und tief im Innern als unser Eigenes empfinden. Dieses Dritte ist das, was Menschen, die sich als (spirituelle) Sucher empfinden, aber auch jene, die auf andere Weise nach dem Sinn ihres Lebens fragen, tatsächlich suchen. Es ist das, was unsere tiefste Sehnsucht ausmacht.
Solange das Kind in der Mutter ist, ist diese die ganze und einzige Welt des Kindes, sie atmet für das Kind, isst und trinkt für das Kind, sie ist im wahrsten Sinne des Wortes dessen Ein und Alles. Wenn im Schlager die Einheit mit der Geliebten besungen wir – „Du bist die Welt für mich“, „You’re my world, you’re ev’ry night and day, You’re my world you’re ev’ry pray I pray“ – dann geht es tatsächlich um die verlorene Einheit mit der Mutter. Die schönsten und in der Interpretation einzigartigen Liebeslieder von Elvis Presley besingen tatsächlich seine Liebe zu seiner Mutter – und vielleicht, ganz unbewusst, die Sehnsucht nach seinem tot geborenen Zwillingsbruder; Ähnliches gilt für John Lennon, der seine Mutter früh verloren hat. Wer die Verschmelzung mit dem Geliebten als Partnerschaftsideal hat oder meint, seinen Seelenpartner suchen und finden zu müssen, träumt in Wahrheit von der Symbiose mit der Mutter. Dasselbe gilt für jene, die die Einheit mit der Natur suchen. Diese Einheit ist mit der Geburt des Menschen, mit der Entstehung des menschlichen Bewusstseins, vorbei, unwiederbringlich. Die Geburt (Entstehung) des Menschen ist die Trennung von der Natur, wir sind nur deshalb Menschen, weil wir der Natur entrissen, weil wir keine bloßen Naturwesen mehr sind . Ich greife das im nächsten Kapitel wieder auf.
Das Kind wächst und entwickelt sich in der Einheit, Mutter und Kind sind noch nicht zwei. Man kann auch sagen: Zwischen Mutter und Kind herrscht keine Beziehung und Kommunikation, sondern die ursprüngliche Kommunion. Vielleicht ist das das Urbild der Heiligen Kommunion der Katholiken, nur dass es sich bei der Kommunion mit der Mutter um die ursprüngliche, natürliche Kommunion, bei der mit Jesus Christus um die geistige Kommunion, die Vereinigung mit dem Geist (Gott) handelt. Erst mit der Geburt ändert sich dieser Zustand, erst jetzt hat das Kind einen eigenen, unabhängigen Kreislauf, ist von der Mutter getrennt und kann, zunächst ganz undeutlich und ganz allmählich, beginnen, diese von außen wahrzunehmen und damit auch sich selbst als etwas Eigenes zu empfinden.
Geburt – Die erste Trennung
Mit der Geburt ist die Einheit vorbei, Mutter und Kind werden getrennt. Körperlich ist das der Beginn der zweiten Lebensstufe, der Kindheit. Im Lebensintegrationsprozess sehen wir jedoch, dass die zur Geburt gehörenden seelischen Prozesse regelmäßig in der ersten Bewusstseinsstufe auftauchen. Zwischen dem körperlichen Leben und dem entsprechenden Bewusstsein gibt es eine zeitliche Differenz, die neue Lebenswelt tritt erst ganz allmählich ins Bewusstsein des Kindes. Psychisch besteht die Einheit mit der Mutter noch eine gewisse Zeit lang fort. Erich Neumann sieht sogar das gesamte erste Lebensjahr als eine „nachgeburtliche Embryonalzeit“, die dem Menschen (im Gegensatz zu anderen Säugetieren) eigen ist 24. Deshalb behandle ich das Thema sowohl bei der Stufe 1 als auch später, wenn ich über die Kindheit schreibe. Hier geht es mir mehr um den Vorgang der Geburt und darum, wie dieser sich im Bewusstsein niederschlägt, später mehr darum, wie das Kind nach der Geburt in die neue Welt hineinwächst.
Die psychologische Sicht ändert nichts daran, dass die faktische Trennung mit der Geburt bereits erfolgt ist, auch wenn das Bewusstsein (die Seele) des Kindes dies noch nicht realisiert hat. Es hat sich nämlich etwas ganz Entscheidendes verändert: Es kann ohne die Mutter überleben. Vor der Geburt ist dies anders, wenn die Mutter stirbt, stirbt auch das Kind. Die faktische Symbiose endet mit der Geburt. Und damit „stirbt“ auch der Embryo (oder der Fötus) als ein Wesen, das in seiner gesamten Existenz in ein anderes Wesen (die Mutter) eingelassen ist und (ausschließlich) von diesem lebt, und das Kind als eigenständiges Wesen entsteht.
Die Geburt tritt ein, wenn der menschliche Körper sich so weit entwickelt hat, dass er eigenständig funktionieren kann. Sie tritt nicht ein (wenigstens nicht auf natürlichem Wege), wenn die Mutter oder das Kind das will! Hier zeigt sich dasselbe, was ich bereits über die Empfängnis gesagt habe: Unsere Geburt (unser Leben) ist nicht ein Ergebnis eines Wollens oder einer Entscheidung, sondern etwas, was vollkommen unabhängig von unserem Wollen geschieht, wenn die Zeit dazu gekommen ist. Die Zeit für unsere körperliche Geburt – und damit auch die Zeit für die körperliche Trennung von der Mutter – ist dann gekommen, wenn die körperlichen Organe ausgereift sind und allein funktionieren können. Wenn wir dem nicht folgen, sterben wir. Die Geburt ist reine Notwendigkeit, reines Geschehen, vollkommen unpersönlich und ohne jede Freiheit. Zugleich jedoch führt uns die Unterwerfung unter diese Notwendigkeit in die Freiheit unserer eigenen, von der Mutter losgelösten Existenz, in unser eigenes Leben.
Wir begegnen hier einer Tatsache, über die sich Philosophen von Anbeginn der Philosophie bis heute den Kopfzerbrechen: die gegenseitige Bedingtheit von Notwendigkeit und Freiheit. Die Geburt zeigt, dass es ganz einfach ist: Freiheit und Notwendigkeit sind keine Gegensätze, die sich ausschließen. Die heute herrschende Vorstellung, Freiheit müsse man sich erkämpfen (was im politischen Raum wohl stimmen mag), ist falsch. Der Kampf um Unabhängigkeit ist keine Freiheit, sondern bezeugt geradezu die Unfreiheit. Nur wer nicht frei ist, muss um Freiheit kämpfen. Wer wirklich frei ist, braucht nicht darum zu kämpfen. Die Geburt zeigt: Freiheit bekommt man geschenkt, wenn man sich der Notwendigkeit hingibt. Sie ist die natürliche Folge des Mitgehens mit den Gesetzmäßigkeiten des Lebens. Wir werden dies bei der Besprechung der Stufe 4 vertiefen.
Die Geburt ist ein vollständiger Weltenwechsel 25, ein Übertritt in eine ganz neue, andersartige Welt. In der Welt, die die Mutter war, der Welt des Embryo, war es absolut dunkel, alles war nah, alles unmittelbar tastbar und sensorisch wahrnehmbar, alles gleichbleibend warm, man war ganz umhüllt und ganz von allein versorgt. Reines Dasein. Diese Welt verlassen wir mit der Geburt. Die Welt, in die wir dann hineinfallen, ist das genaue Gegenteil: hell und licht, mal kalt, mal warm, voller ganz verschiedener Geräusche und Gerüche, weit, ungeschützt, offen und ohne Grenzen. Im Grunde ist das Geboren werden zugleich ein Sterben – das Kind muss, wie der alte Mensch beim Sterben, seine alte Welt, alles, was es kennt und was ihm vertraut ist, verlassen, ohne die geringste Ahnung zu haben, dass hinter dem Tunnel, in den es hineingepresst wird, nach dieser ungeheuren Anstrengung und dem Kampf hindurchzukommen, nach der Trennung von allem, was bis dahin sein Leben war, eine neue, ganz und gar andere Welt auf es wartet 26. Es kämpft zwar um sein Leben, aber nicht, weil es in diese neue Welt hinein will, sondern weil hinter ihm der Tod ist und es schlicht seinem Überlebenstrieb folgt. Wahrscheinlich gibt es zwar ein implizites Wissen darum, dass es geboren werden muss, dass es hinaus muss in ein Irgendwo, aber das kann nur ein implizites, unbewusstes Wissen sein, ein natürlicher Instinkt, der uns einfach treibt und dem wir blind folgen.
Читать дальше