Abweichungen vom Body-Mass-Index galten in höchstem Maße als unfein, ja abstoßend und zeugten nach allgemeinem Verständnis von großer Disziplinlosigkeit, ja galten in gewissem Maße auch als aufmüpfig und widersetzlich gegenüber dem Staat und seinen Gesetzen.
Wer fett war, galt als jemand, der sich willentlich außerhalb der Gesellschaft stellte, und wurde als »unsicherer Kantonist« in Sachen Staatstreue und Loyalität gegenüber dessen Organen betrachtet. Das ging so weit, dass Eltern, die ihre Kinder zu »Moppeln« heranfütterten, mit Geldstrafen sanktioniert und von allen schief angesehen wurden.
Speckrollen und Bauchwülste fanden sich hauptsächlich bei »Underdogs« und bei gefährlichen Individuen; wobei Letztere im besonderen Fokus des Inlandsgeheimdienstes standen.
»Vor weit mehr als hundert Jahren«, fuhr der Minister fort, »hat die katholische Kirche den ursprünglichen, ehrwürdigen Bau, in dem wir uns heute befinden, und der einst als Kloster eine Schar von Mönchen beherbergt hatte, zu einem Heim für unliebsame Früchte sexueller Ausrutscher von Geistlichen und ihren Haushälterinnen umfunktioniert. In den Pfarrhäusern konnte und wollte man diese aus naheliegenden Gründen nicht aufziehen …
Ein halbes Jahrhundert lang leistete dieses Heim gute Dienste. Die unehelichen Kinder waren aus dem Blickfeld der Gläubigen verschwunden – so, als gäbe es sie gar nicht und ›Zucht und Ordnung‹ waren nach außen wiederhergestellt.
Vor dreißig Jahren erfolgte dann erneut eine Umwidmung des Gebäudes, nämlich in ein ›Internat für speziell zu fördernde Schüler‹.
Was hatte man sich jetzt darunter vorzustellen? Handelte es sich bei diesen Kindern und Jugendlichen um solche, die der Volksmund als ›schwachsinnig‹ bezeichnete? Sollten die Ärmsten hier einen Sonderunterricht genießen, der auf ihre eklatanten Lernschwächen und geistigen Defizite, die selbst die so beliebte ›Inklusion aller‹ überforderte, im Besonderen einging und sie bestmöglich förderte, um ihnen als Erwachsene eine einigermaßen akzeptable Teilhabe am öffentlichen Leben zu ermöglichen?
Die Dorfbewohner von XYhausen jedenfalls nahmen das an, nachdem sie mit der Überraschung konfrontiert worden waren, von jetzt auf gleich ihre inzwischen vertrauten ›Pfarrerbastarde‹ zu verlieren. Der Ausdruck klang nicht gerade liebevoll, war aber längst nicht mehr böse gemeint gewesen. Mittlerweile hatten ihn die Heimbewohner selbst benutzt, sobald sie sich im Ort vorstellten …
Man konnte damals zuletzt sogar den Eindruck gewinnen, die solchermaßen stigmatisierten Jugendlichen habe eine gewisse Art von Stolz erfüllt: Immerhin waren sie der ›normalen‹ Liebe von Männern und Frauen entsprungen!
In Zeiten, in denen man den Eindruck hatte gewinnen können – und wie böse Zungen auch nicht müde wurden, zu verbreiten –, die katholische Kirche sei, des Pflichtzölibats wegen, ein willkommenes Sammelbecken für Schwule, sowie ein praktisches Auffanglager für Pädophile und Päderasten, waren ›Pfarrerbankerte‹ in ihrer Wertigkeit doch um etliche Stufen höher anzusiedeln! Im Übrigen sahen das die Einwohner von XYhausen genauso.
Warum sollte also das Heim nicht mehr weitergeführt werden?
Tatsache war, dass es im Laufe der Jahrzehnte immer weniger dieser ›Sündenkinder‹ gab. Ob es daran lag, dass die katholische Geistlichkeit, die sich nach wie vor ans völlig widernatürliche Zölibat halten musste, mittlerweile gelernt hatte, Kondome zu benutzen, oder die Pfarrersköchinnen die Pille nahmen oder sonstige Verhütungsmaßnahmen anwandten – oder dass es fast nur noch schwule Kleriker gab?«
Den meisten Zuhörern war das mit den »Sündenkindern« völlig neu gewesen. Darüber war offenbar vonseiten der katholischen Kirche sehr effizient der Mantel des Schweigens gebreitet worden …
»Tatsache war, meine Damen und Herren: Das riesige Gebäude war auf einmal leer gestanden und die Kirche bemühte sich, es loszuwerden, ehe es jahrelang nutzlos vor sich hingammelte und trotzdem eine Unmenge Kosten für Heizung und Instandhaltung verschlang.
Die Suche nach einem zahlungskräftigen Käufer gestaltete sich aufgrund der Lage nicht ganz einfach, aber auf einmal gab es gleich zwei Interessenten zur selben Zeit: Ein Pekinger »Maschinenbaubetrieb«, der erneut irgendwelche unnützen Roboter entwickelte, und die Bundesregierung. Letztere war es dann auch, die den Zuschlag für das Objekt ›in der Pampa‹ bekam.
Dass man den Bau als Internat und Bildungseinrichtung für Schüler nutzte, lag eigentlich aufgrund der räumlichen Aufteilung, sowie der gut ausgestatteten Sporteinrichtungen auf der Hand. Bloß welche das sein sollten, darüber kursierten nur wilde Gerüchte.
Die Kinder und Jugendlichen lebten zu Anfang weitgehend abgeschottet von der Dorfbevölkerung. Aber Handwerker und Lieferanten, die notgedrungen mit den Zöglingen in Berührung kamen, berichteten den neugierigen Dörflern, dass es sich keineswegs um ›geistig Defizitäre‹ handelte.
Hm. Hatte man es vielleicht mit Schwererziehbaren zu tun? So argwöhnten daraufhin besonders Ängstliche. Waren die Jungen und Mädchen womöglich gefährlich für die Allgemeinheit? Müsste man künftig abends die Haustüren sorgfältig verschließen und sich zum Schutz Wachhunde anschaffen? Dass man die Betreffenden quasi kasernierte, sprach jedenfalls dafür …
Ehe es von der furchtsamen Bevölkerung zu größeren Protestveranstaltungen und damit zu unliebsamem Aufsehen kam, lockerte die Internatsleitung die ›Residenzpflicht‹ der Kinder und Jugendlichen ein wenig. Am Wochenende etwa durften sie für einige Stunden ins Dorf hinunter gehen und manche freundeten sich sogar mit der Dorfjugend an, wurden in die Familien eingeladen und richteten gemeinsame Fußballturniere aus.
Das Ganze war und blieb aber eine Einbahnstraße: Umgekehrt war es nämlich nicht erlaubt, dass die Dorfkinder einen Gegenbesuch unternahmen …
Auffallend waren die guten, ja exzellenten Manieren der jungen ›Burgbewohner‹, wie man sie in XYhausen nannte. Sie grüßten jedermann, lärmten nicht ungebührlich, tranken kaum Alkohol, stritten sich so gut wie nie mit den Einheimischen, machten nichts kaputt – und falls doch, geschah es aus Versehen und nicht aus Übermut oder mit Absicht; sie entschuldigten sich umgehend und sorgten für Wiedergutmachung.
Bürgermeister, Gemeinderat und Bewohner von XYhausen waren nicht nur beruhigt, sondern im Laufe der Zeit geradezu begeistert von den wohlgesitteten Insassen des Internats, über das die Leitung schließlich, um das dauernde Gerede abzuwürgen, das Gerücht streute, es handele sich bei den jungen Leuten um ›Waisenkinder‹. Eine Behauptung, die widerspruchslos angenommen wurde.
›Drum erzählen die auch nie was über ihre Eltern und ihre Familien!‹, verlautete im Dorfwirtshaus. ›Die meisten verraten noch nicht mal, wo genau sie geboren sind!‹, kritisierte einer der Stammtischbrüder.
›Vielleicht wissen es die armen Würmer auch gar nicht!‹, gab darauf einer vom Stamme der sogenannten ›Gutmenschen‹ zu bedenken. Und dabei beließ man es.«
»Wie schon beim letzten Mal angemerkt, wird demnächst das Gebäude tatsächlich aus allen Nähten platzen«, fuhr der Referent fort. »Wie ich vermelden darf, werden wir nämlich neuen und kräftigen Zuzug aus den einzelnen Bundesländern erhalten! Das hat mir die Frau Bundeskanzlerin definitiv zugesagt und mich – und damit Sie alle – ihrer großen Zufriedenheit mit unserem Projekt versichert, meine Damen und Herren! Auch, dass wir es über drei Jahrzehnte verstanden haben, dieses Projekt vor den Augen einer vermutlich missgünstigen, weil verständnislosen Öffentlichkeit wirksam zu verbergen, indem wir es so grandios getarnt haben, findet ihren ungeteilten Beifall.
Читать дальше