1 ...8 9 10 12 13 14 ...37 Das Geräusch hastiger Schritte erklang im Korridor und gleich darauf schob sich Senad vorsichtig und nach allen Seiten sichernd herein. Ihm folgten Koll und dann die anderen Guardians, nachdem er ihnen ein Zeichen gegeben hatte, dass keine Gefahr bestand. Die Überraschung stand jedem ins Gesicht geschrieben. Ihre Gegner waren nach dem Warnruf ihres Gefährten sofort aus dem Schloss geflohen. So hatte noch kein Kampf geendet, dass der Feind geschlossen Fersengeld gab.
"Tja, das war es", beendete Tariq seinen Bericht. "Wir machten eine kurze Bestandsaufnahme. Yonas war völlig fertig. Du hast ihn ja vorhin selbst gesehen. Koll hatte einen Streifschuss am Oberschenkel abbekommen, Shujaa blutete am Arm. Und Ahmad ... Da erst merkte ich, dass er weg war. Wiedermal einfach verschwunden, ohne ein Wort zu sagen. Keiner hatte gesehen, wohin er gegangen war. Wir warteten ein paar Minuten auf ihn, aber er kam nicht zurück. Ich rief ihn an, aber er ging nicht ran. Kolls und Shujaas Verletzungen mussten versorgt werden, also haben wir das Schloss verlassen in der Annahme, dass er sich später wie immer telefonisch bei mir melden würde. Ich habe wirklich nur gesehen, dass er am Kopf blutete. Und wenn er nicht irgendwann später auf dem Heimweg von jemandem angegriffen und so zugerichtet wurde, dann hast du recht ...", er seufzte zerknirscht, "wir haben ihn so zurückgelassen." Eine Weile schwieg er und starrte auf seine schmutzigen Schuhe. "Was meinst du", fragte er Issam jetzt leise, während er aufstand, "bekommst du ihn wieder hin?"
Der saß noch immer am Computer und hatte während Tariqs Bericht mit gerunzelter Stirn die stark vergrößerte Röntgenaufnahme der verletzten Schulter betrachtet. Nun drehte er sich langsam mitsamt dem Hocker herum und sah zu ihm hinauf. Seine Augen hatte er zu Schlitzen verengt.
"Wieder hinbekommen? Das ist kein kaputtes Auto. Wenn du meinst, ob ich ihn retten kann - ja, ich denke schon, wenn keine Komplikationen eintreten. Aber es wird eine ganze Weile dauern, bis er wieder auf den Beinen ist. Er hat viel Blut verloren und bräuchte wirklich dringend Blutkonserven. Doch ich habe keine Ahnung, ob er mit Fremdblut überhaupt klarkommt."
Er hieb sich mit der Faust auf den Oberschenkel. Man konnte sehen, dass ihm die Situation zu schaffen machte. "Ich weiß nicht, durch was diese Veränderung bei ihm ausgelöst wurde und warum seine Wunden diesmal nicht so schnell wie sonst heilen. Und ich weiß auch nicht, was bei ihm anders ist als bei normalen Menschen, nur dass etwas anders ist", fuhr er fort und bemühte sich, den aufkommenden Zorn im Zaum zu halten. "Ich weiß nichts über seinen Organismus, nicht einmal ob Medikamente bei ihm genauso wirken wie bei jedem beliebigen Menschen! Ich weiß eigentlich überhaupt nichts über ihn!! Verd… !!!"
Der Arzt war aufgesprungen und würgte den Rest des letzten Wortes hinunter. Er sah aus, als wolle er gleich auf irgendetwas einschlagen. Heftig atmend schloss er die Augen und versuchte seine Ruhe wiederzufinden, während er hilflos die Fäuste ballte.
"Kann ich etwas tun?", fragte Tariq ruhig.
Sein Freund ließ die Schultern sinken, sank förmlich in sich zusammen.
"Es wäre gut, wenn du Blutkonserven organisieren könntest. Wenn es geht, heute Nacht noch", meinte er leise und setzte sich wieder. "Dürfte doch bei deinen Verbindungen nicht schwierig sein, oder?"
Tariq nickte. "Kein Problem", versicherte er. "Ich rufe jemanden an, der auch nachts ins Institut rein kann, und ich gebe ihm deine Nummer. Sag ihm einfach, was du brauchst."
"Gut, ich warte auf seinen Anruf und teste inzwischen Ahmads Blut." Issams Stimme ließ zwar Erleichterung erkennen, aber trotzdem war er noch sehr besorgt. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als darauf zu hoffen, dass Ahmad diese Verletzungen auch ohne seine Heilfähigkeit selbst in den Griff bekommen würde, wenn auch später als sonst.
Einen kurzen Augenblick erwog er, den schwarzen Guardian in ein Krankenhaus bringen zu lassen. Doch alles, was dort getan werden würde, konnte er hier ebenso gut erledigen. Und das Risiko, dass man in der Klinik auf die Besonderheiten in Ahmads Organismus aufmerksam wurde, war groß. Keiner konnte sagen, was sich daraus entwickeln würde. Deshalb entschied er, ihn hierzubehalten. Vorerst zumindest.
"Ich wünschte, er hätte es mir irgendwann einmal erlaubt, ihn zu untersuchen", sprach er leise weiter. "So kann ich jetzt erst damit beginnen. Und das ist schlecht, denn die Zeit drängt. Wir werden sehen, was die Nacht bringt. Morgen früh wissen wir mehr." Er warf noch einen letzten Blick auf den Computerbildschirm, dann ging er wieder hinüber zum Behandlungstisch.
Tariq schluckte trocken. Es fühlte sich an, als wäre sein Mund voller Sand. "Bleibst du heute Nacht bei ihm?"
Der Blick, den Issam ihm über den gerade wieder hochgezogenen Mundschutz hinweg zuschleuderte, zeigte dessen Frust über die eigene Hilflosigkeit. Aber jetzt zusätzlich auch noch Zorn darüber, dass sein Freund ihm offensichtlich zutraute Ahmad allein zu lassen.
"Das fragst du ernsthaft? Ich bin der Arzt hier! Natürlich bleibe ich."
Tariq stand einen Moment unschlüssig. Er spürte Issams Ärger und dass seine unbedachten Worte den Freund verletzt hatten. Dabei bereute er sie schon, kurz nachdem er sie ausgesprochen hatte. Resigniert seufzte er.
"Natürlich. Es tut mir leid, das war eine dumme Frage. Entschuldige bitte." Er zögerte kurz. "Brauchst du mich noch?", fragte er dann leise.
"Nein, danke."
Die Stimme des Arztes hatte ihre Schärfe bereits wieder verloren. Auch er bereute seinen heftigen Ausbruch. Klappernd sammelte er seine Instrumente auf dem kleinen Rolltisch zusammen und legte sie ins Spülbecken. Dann stützte er die Hände auf den Rand, atmete tief durch und drehte sich um.
"Geh ruhig. Ich komme klar hier. Tanyel hilft mir." Er vergewisserte sich mit einem Seitenblick auf den Steward, dass dieser bereitwillig nickte.
"In Ordnung. Dann danke ich euch beiden. Ich weiß Ahmad in guten Händen. Gute Nacht."
Tariq drehte sich um und verließ die kleine Klinik.
Tanyel sah ihm nach und bemerkte stirnrunzelnd, wie Müdigkeit und Erschöpfung seine Schritte schleppend machten.
Er wusste, dass sein Chef nicht gesund war. Doch der sprach nie darüber. Und deshalb hatte er keine Ahnung, was ihm fehlte, obwohl er als Steward sonst mehr über ihn wusste als jeder andere hier im Haus. Ja, er vermutete gar, dass er mehr wusste als Issam, weil er den leisen Verdacht hatte, dass Tariqs Zustand und das, was seine Gesundheit angriff, bei den regelmäßigen Checks des Arztes nicht entdeckt werden konnten.
Mittwoch, 00:05 Uhr
Langsam stieg Tariq die breite Treppe hinauf zu seinen Räumen im ersten Stock. Der weiche Teppich schluckte die Geräusche, die seine Schritte dabei verursachten. Er benötigte kein Licht. Ungehindert fiel das Mondlicht durch das riesige Glasfenster neben der dunklen Holztreppe. Die Schatten der dünnen Quer- und Längsstreben des Fenstergitters zeichneten ein verzerrtes Karomuster auf den hell erleuchteten Bereich der Stufen.
Seine Beine waren schwer und er hatte das Gefühl, es dauerte heute länger, bis er oben ankam. Beide Zeiger seiner teuren Armbanduhr standen nach der Zwölf, Mitternacht war vorüber.
Der Einsatz hatte ein gutes Ende genommen. Yonas befand sich wieder zu Hause. Trotzdem, sie waren nicht ungeschoren davongekommen.
Er selbst hätte dafür Sorge tragen müssen, dass seine Leute, wenn schon nicht unversehrt, dann auf jeden Fall vollzählig zurückkehrten. Er war der Chef. Das mit Ahmad hätte nicht passieren dürfen. Er war extra hinterhergefahren, um so etwas zu verhindern.
In seiner Wohnung angekommen, ging er zuerst zum Telefon, um Will anzurufen. Sein zuverlässigster Mitarbeiter würde dafür sorgen, dass die benötigten Blutkonserven für Ahmad innerhalb der nächsten zwei Stunden da waren, daran hatte er keinen Zweifel.
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