"Ja", antwortete er leise und trat aus dem Schatten. "Ich kann nicht schlafen."
Tanyel nickte verstehend.
Der Guardian versuchte das Gesicht des Stewards zu erkennen und musste dazu den Kopf anheben. Er war nicht klein, aber Tanyel überragte jeden hier, selbst Shujaa. Bei den niedrigen Türen im Keller musste er sich bücken und wer ihm das erste Mal begegnete, war beeindruckt von seiner Erscheinung. Dabei besaß der blonde Riese ein so sanftes Wesen, dass er keiner Fliege etwas zuleide tun konnte. Tariq war der scharfe Verstand von Darach Manor, Tanyel aber die Seele des Hauses.
"Es hat ihn ganz schön übel erwischt", meinte er jetzt leise. "Er zeigt mir momentan nur ein dunkles Grau, ein sehr dunkles. Ich kann keine anderen Farben bei ihm sehen, also nehme ich an, er ist weit weg."
Trajan verstand die Bedeutung dieser seltsamen Worte. Der Steward konnte das Befinden eines Menschen erkennen, das geistige wie auch das seelische. Für Tanyel offenbarte sich das in Farben, die die Gestalt des Betreffenden umhüllten, wenn er die Augen schloss. Oder wenn es - so wie eben, als er Trajan entdeckt hatte - völlig dunkel war. Jede Stimmung hatte ihre Farbe und je weniger Farbe zu sehen war, desto schlechter ging es dem Betreffenden.
Ahmads Farbe war jetzt gerade ein dunkles Grau.
Trajans Herz begann erneut schneller zu schlagen.
"Hast du ... schon einmal bei jemandem Schwarz gesehen?"
Der Steward schaute den blauen Guardian einen Augenblick an und ließ ihn so für einen winzigen Moment sein Gesicht erkennen. Schnell wandte er den Blick wieder ab, jedoch nicht schnell genug.
Trajan hatte den Schmerz in den graublauen Augen noch sehen können.
"Ja, einmal. Als wir Orell und dich damals fanden. Ich sah das Schwarz nur einen Augenblick lang, kurz bevor Orell starb. Und ich will es nie wieder sehen müssen."
Schon wieder Orell ...
Trajan hatte plötzlich einen Kloß in der Kehle. Erst vorhin hatte er an den getöteten Kameraden denken müssen. Der Mord an ihm war ein heftiger Schlag für alle gewesen. Senads ehemaliger Teampartner hatte ein liebenswertes Wesen besessen, jeder hatte ihn einfach mögen müssen. Er war mit Shujaa und Senad in einer Klasse gewesen. Seine Fähigkeit, bei der Zielperson mittels Hypnose Aggressionen abzubauen und eine Sphäre der Sympathie zu schaffen, war einzigartig und hatte bei Einsätzen nicht selten die Wende herbeigeführt.
Trajan schluckte mühsam, doch der Kloß im Hals blieb. Orell war damals als Einziger der Guardians an seiner Seite gewesen, als Rayans Handlanger von der Hafenmafia sie überrascht und sofort angegriffen hatten.
Er selbst wurde bei diesem Kampf schwer verletzt. Erst viel später, als es ihm langsam besser ging, hatte man ihm gesagt, dass Senads Teampartner nicht überlebt hatte. Er war wie gelähmt gewesen. Hatte sich schuldig gefühlt, weil er Orell nicht hatte helfen können und weil er selbst noch am Leben war.
"Willst du zu ihm?"
Tanyels Stimme riss ihn aus der Vergangenheit zurück ins Hier und Jetzt. Trajan spürte den Blick des Stewards forschend auf sich ruhen. Mit etwas Mühe schüttelte er die Erinnerung an diesen furchtbaren Tag damals ab.
"Geh ruhig. Der Doc wird nichts dagegen haben."
Die Worte sollten ermunternd klingen, doch Trajan zuckte unentschlossen mit den Schultern. "Ich kann ihm eh nicht helfen", meinte er leise.
Tanyel hob kurz eine Augenbraue. "Wer, wenn nicht du?", fragte er mit leicht schiefgelegtem Kopf. Dann nickte er Trajan zu, drehte sich um und stieg die Treppe zum zweiten Stock hinauf.
Der sah ihm nach und überlegte, was der Steward mit dieser rätselhaften Äußerung wohl gemeint haben könnte. Doch dann huschte er geräuschlos die Treppe hinab ins Erdgeschoss und stand einen Augenblick später vor Issams Reich. Leise öffnete er die Tür zur Klinik. Der Kontrast verblüffte ihn jedes Mal aufs Neue. Man kam von einem Jahrhundert gleich ins übernächste, wenn man diesen Trakt im Ostflügel des Hauses betrat. In den großen Räumen im Haupthaus des uralten Landsitzes fand man Kronleuchter und mit dunklem Holz vertäfelte Wände, plüschbezogene Sitzmöbel und goldgerahmte Bilder. Selbst die etwas düsteren Korridore wurden von kleinen, verschnörkelten Kristallleuchtern erhellt und die dicken Teppiche im Foyer und auf der Treppe schluckten die Geräusche der Schritte. Das Haus atmete Vergangenheit und genau dahin fühlte man sich zurückversetzt, wenn man es betrat.
Aber ging man durch diese solide, schallisolierte Tür, stand man plötzlich in einer Hightech-Welt, die der einer Universitätsklinik durchaus das Wasser reichen konnte, wenn sie auch nur eine Miniaturausgabe davon war.
Der geräumige Behandlungsraum hatte keine Fenster. Dahinter konnte man durch die gläsernen Trennwände die beiden ebenfalls sehr großzügigen Krankenzimmer sehen. Die Glaswände ermöglichten es Issam, die zwei Betten darin jederzeit und von jedem Punkt aus im Blick haben zu können.
Und deshalb konnte Trajan jetzt auch sofort sehen, dass der Doc in einer wenig bequemen Haltung auf einem Stuhl im gelben Zimmer saß. Den Kopf hatte er auf seine auf dem Tisch verschränkten Arme gelegt und schlief.
Leise schloss der blaue Guardian die Tür hinter sich.
Außer leisen Pieptönen war nichts zu hören. Trajan kannte sie. Sie gehörten zu einer Monitor-Überwachung. Nach diesem Kampf im vergangenen Oktober, bei dem Orell getötet wurde, war er selbst lange orientierungslos zwischen Leben und Tod hin und her gewandert. Die Pieptöne des Monitors waren oft sein einziger Anker in der Welt der Lebenden gewesen. In seinen tagelang ständig schwankenden Wachheitszuständen hatte er sich an ihnen festgeklammert, als könne er so ein endgültiges Abdriften in die Welt des Vergessens verhindern.
Wenn Ahmad mittels Monitors überwacht wurde, ging es ihm schlecht. Issam war kein Arzt, der seine Patienten verzärtelte. Die Guardians mussten oft die Zähne zusammenbeißen, wenn er ihre Verletzungen behandelte. In der Klinik blieb nur, wer das Bett hüten und beobachtet oder gar überwacht werden musste.
Trajan selbst war damals fast sechs Wochen hier gewesen. Kaum einer hatte noch ernsthaft damit gerechnet, dass er zurückkehren würde aus seinem Dämmerzustand. Nur Tiana, seine ältere Schwester. Sie hatte nie die Hoffnung aufgegeben. Keinen Tag war sie von seiner Seite gewichen. Er erinnerte sich nicht daran, aber Tanyel hatte es ihm erzählt.
Während dieser Gedanken war er langsam weitergegangen und hatte sich dabei umgesehen.
Im Behandlungszimmer brannte kein Licht. Lediglich der leuchtende Bildschirm des Computers tauchte den Raum in einen fahlen Schimmer. Auf dem Rolltisch lag ein verknülltes, blutiges Papierlaken. Aufgerissene Verpackungen von Verbandszeug und leere Plastikflaschen häuften sich auf der Ablage. Der Mülleimer quoll über und auf dem Boden neben der Tür konnte er im Halbdunkel Ahmads Mantel erkennen. Daneben lehnte noch die Trage an der Wand, so wie er sie vorhin hingestellt hatte.
In der Ecke links hinten befand sich eine Nische mit einem schmalen Notbett. In dem schlief Issam, falls ein Patient mal ständig überwacht werden und er notfalls schnell zur Stelle sein musste. Dort gab es auch eine kleine Treppe zu seinem Labor und seiner Bibliothek im Keller.
An der offenen Glastür zum gelben Zimmer blieb Trajan stehen. Trotzdem er die Klimaanlage leise summen hörte, war es drückend warm im Raum. Lediglich eine kleine Lampe am Kopfende des Bettes spendete sanftes Licht. Doch sie schien Mühe zu haben, den Bereich, den sie mit ihrem Lichtkegel erfasste, der Dunkelheit im Zimmer zu entreißen.
Kurz betrachtete er Issam. Der leise schnarchende Arzt sah erschöpft aus. Doch Trajan war sicher, dass er bei der leisesten Veränderung der Pieptöne oder bei einem Alarmsignal des Monitors augenblicklich aufspringen würde.
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