Mittwoch, 07:00 Uhr
Als der Hausherr am Morgen erwachte, überfiel ihn sofort die Erinnerung an die Ereignisse der vergangenen Nacht. Er setzte sich auf und schaute auf die Uhr.
Es war sieben. Ihm entfuhr ein ärgerliches Knurren, denn eigentlich wollte er eher aufstehen. Doch trotz des aufregenden Abends hatte er traumlos bis jetzt durchgeschlafen.
Barfuß ging er zum Fenster und sah eine Weile hinaus in den nebligen Aprilmorgen. Dass die Blutkonserven angekommen waren und dass Ahmad die Nacht überstanden hatte bezweifelte er nicht, sonst hätte Issam ihn geweckt.
Ahmad. Verdammt. Sein Herz klopfte schneller bei dem Gedanken, in die Klinik hinunterzugehen, und widerwillig musste er sich eingestehen, dass er sich davor fürchtete.
Seufzend rieb er sich mit Daumen und Zeigefinger über die Augen, während er ins Badezimmer schlurfte. Die Hände auf das Waschbecken gestützt und seine müden Augen im Spiegel musternd versuchte er sich zu erinnern, ob gestern irgendetwas an dem schwarzen Guardian anders gewesen war. Konzentriert schloss er die Augen und rief sich die Szene in Erinnerung. Er sah Ahmad, wie er an der Wand lehnte und sein Ebenbild anstarrte, das ihm gegenüberstand und mit der Waffe in Schach hielt. Und wie er dann neben Yonas in der Mitte dieses seltsamen Energiewirbels kniete. Er war einfach hineingegangen. Und dann? Ahmad hatte keine Energie angewendet, weder Blitze noch blaue Geschosse, nichts. Er hatte einfach gar nichts getan.
Tariq hieb frustriert mit der Faust auf den Waschbeckenrand. Er wusste, dass er etwas übersah, aber er kam nicht darauf, was es war. Er hatte nichts Ungewöhnliches bemerkt.
Mit einem erneuten Seufzen zog er sich an, um hinunter zu gehen.
In der Klinik fand er nur seinen Steward vor. Der Arzt war nicht da.
"Wie geht's ihm?", fragte er mit leiser Stimme.
Tanyel, der gerade den Behandlungstisch reinigte, hielt inne und richtete sich auf.
"Nicht gut", antwortete er und warf einen schnellen Blick zum gelben Zimmer. "Dunkelgrau. Vielleicht noch eine Spur dunkler als gestern Abend."
Tariq konnte die Botschaft verstehen. Wie alle anderen wusste er um die besondere Fähigkeit seines Stewards. Nach Dunkelgrau kam Schwarz.
Er erinnerte sich noch gut an diesen furchtbaren Tag und daran, wie verstört Tanyel danach gewesen war. Der Tag, an dem er das erste und bis heute einzige Mal Schwarz bei einem Menschen sehen musste: als er Orell auf seine Arme gehoben und versucht hatte, ihn schnellstmöglich zum Auto zu tragen, um ihn nach Darach Manor zu Issam bringen zu können. Und als er merken musste, dass es zu spät war.
Plötzlich war er stehengeblieben, als sei er gegen eine Wand gelaufen. Dann hatten seine Beine nachgegeben und nachdem er mitten auf der Straße auf die Knie gefallen war, hatte er den Achtzehnjährigen ganz behutsam an seine Brust gedrückt, als fürchtete er ihm wehzutun. Tariq und die anderen hatten gesehen, wie sich seine Lippen dabei bewegten, aber niemand konnte verstehen, was er dem toten Guardian in seinen Armen zuflüsterte, während er sein Gesicht in dessen Haaren vergrub.
Trajan hatte nicht weit entfernt von Orell gelegen, reglos, als wäre auch er tot. Ahmad war damals als erster bei ihm gewesen. Mit einem einzigen kräftigen Ruck hatte er Trajan das T-Shirt entzweigerissen und dann auf die stark blutende Wunde am Kopf gepresst. Man hatte sehen können, dass er dabei auf den Bewusstlosen eingeredet hatte. Mit der anderen Hand auf Trajans Schulter war er an dessen Seite geblieben, bis Imara, die Fahrerin, das Auto so nahe wie möglich herangebracht hatte. Dann hatte er ihn mit Shujaa zusammen aufgehoben und vorsichtig auf den Rücksitz gebettet. Imara war freiwillig auf die Rückbank gewechselt, ohne dass er etwas hätte sagen müssen. Ein Blick von ihm war ausreichend gewesen.
Tariq hatte ihr über diese Fahrt zurück nach Darach Manor kein Wort entlocken können, aber dank Ahmad war Trajan damals rechtzeitig bei Issam angekommen und gerettet worden.
Ironie des Schicksals? Gestern Abend hatte sich Trajan endlich bei ihm revanchieren können, indem er aufgrund seiner besonderen Fähigkeit der Einzige war, der seinen Ruf hören und für Hilfe sorgen konnte.
"Das Blut für Ahmad ist gekommen?" Er warf einen Blick zum Bett und sah den roten Beutel an einem Haken daneben hängen.
"Alles in Ordnung, die Transfusion läuft schon."
Erleichtert nickte er. "Wo ist Issam?", fragte er jetzt und schaute sich suchend um.
"Er war den Rest der Nacht hier. Vor einer Stunde habe ich ihn abgelöst. Ich hoffe, er kann ein bisschen schlafen, aber wie ich ihn kenne, ist er spätestens um neun wieder hier. Ahmad hat während der Nacht Fieber bekommen und die Kopfverletzung bereitet dem Doc auch Sorge."
"Koma?"
"Issam ist sich nicht sicher. Aber wenn der Junge nicht bald aufwacht, wird es wohl so sein", seufzte er und machte sich wieder an die Reinigung des Tisches.
Eine Weile herrschte Stille.
Tariq merkte, dass die Situation Tanyel zu schaffen machte. Orells Tod hatte damals wohl doch eine tiefere Wunde hinterlassen, als er vermutet hatte, und Tanyel befürchtete wohl auch Ahmad zu verlieren. Die Vorstellung, wieder hilflos mit ansehen zu müssen, wie einer der ihm Anvertrauten starb, schien seine Unerschütterlichkeit merklich ins Wanken zu bringen. Als Steward von Darach Manor und damit quasi Mädchen für alles hatte er ein enges Verhältnis zu allen Bewohnern des Hauses. Und zu denen zählte er auch den schwarzen Guardian, selbst wenn dieser nie im Haus war. Dessen war Tariq sich sicher, denn er wusste, dass Tanyel Ahmad jeden Morgen am Nordtor traf, wo er ihm sein Lebensmittelpaket für den Tag übergab.
Auch er spürte jetzt ein Engegefühl in der Brust. Er räusperte sich, weil er seiner Stimme nicht traute. Mit einem Nicken bedankte er sich bei seinem Steward und verließ den Raum. Eigentlich sollte er jetzt beruhigt sein, doch das Gefühl wollte sich nicht einstellen.
Mittwoch, 07:30 Uhr
In dem holzvertäfelten, rustikal eingerichteten großen Besprechungsraum im Erdgeschoss von Darach Manor waren alle Guardians vollzählig versammelt. Sie wussten, dass Tariq den vergangenen Einsatz wie immer mit ihnen auswerten würde und waren gespannt auf das, was er ihnen zu sagen hatte. Eigentlich tat er das sonst immer am Abend. Aber nach der Heimkehr war der Chef mit Yonas und den leicht Verletzten Koll und Shujaa in Issams Klinik verschwunden. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass Yonas Issams Anweisung befolgt hatte, kam er zu ihnen ins Speisezimmer, verkündete, dass die Auswertung am nächsten Tag stattfinden würde und wünschte ihnen eine gute Nacht.
Heute aber war außer dem ungewöhnlichen Zeitpunkt noch irgendetwas anders. Spannung schien in der Luft zu liegen wie der Vorbote von etwas Schlechtem, Bedrückendem. Es gab keine Gespräche, alle schwiegen und waren in Gedanken. Senad, Trajan und Shujaa, die an den vergangenen Abend im Wald dachten, warteten besonders ungeduldig auf Tariq. Gemäß seiner Anweisung hatten sie niemandem etwas erzählt.
Tiana tauschte einen verzagten Blick mit Rhea und seufzte leise. Gestern war der Chef sicher nicht zufrieden mit ihnen gewesen, grübelte sie. Das Ganze hatte sich doch ziemlich chaotisch abgespielt und der Ausgang konnte - wenn man es recht betrachtete - eigentlich nicht anders als pures Glück genannt werden.
Unauffällig musterte sie Trajan. Ihr Bruder war ungewöhnlich schweigsam heute Morgen. Dunkle Schatten lagen unter seinen Augen. Auf ihre Frage, was los wäre, hatte er vorhin nur abgewinkt und erklärt, dass seine Nacht miserabel gewesen sei. Er sieht wirklich übernächtigt aus, dachte sie und die gewohnte schwesterliche Sorge stellte sich ein, als sie ihn so schweigsam in einer Ecke des großen Ledersofas hockend vor sich hinstarren sah.
Als Tariq eintrat, richteten sich automatisch alle Blicke auf ihn. Er blieb einen Augenblick unschlüssig stehen und musterte die jungen Leute vor sich. Tiana konnte sehen, wie sich ein harter Zug um seine Mundwinkel bildete. Sie kannten das. Tariq machte sich um etwas Sorgen.
Читать дальше