Tariq konnte hören, wie Tanyel ihm ab und zu leise und beruhigend zusprach. Während er hinter den anderen beiden durch die Dunkelheit stolperte, realisierte er beschämt, dass er sich nie gefragt hatte, wo Ahmad wohnte und was er tat, wenn er nicht mit den anderen zusammen war. Ein ganzes Jahr lang! Wie hatte ihm das passieren können? Als Chef der Guardians war es seine Aufgabe, für alle Teammitglieder zu sorgen. Auch für Ahmad! Doch irgendwie hatte er ihn aus den Augen verloren. Oder ... wollte er es gar nicht wissen?
Trampelnde Schritte vor ihnen kündigten die Ankunft von Senad und Shujaa an. Trajan stoppte sie und erklärte kurz die Lage. Dann reichte er Shujaa die Taschenlampe und half Tanyel dabei, Ahmad auf die Trage zu legen. Da der rote Guardian eine Verletzung am Arm hatte und deshalb nicht mittragen konnte, packte er selbst das zweite Ende. Auf Senads Kommando hoben sie sie an und liefen hinter Shujaa her, der ihnen jetzt den Weg beleuchtete. Nach wenigen Minuten hatten sie das Haus erreicht. Als erstes waren zwei helle Fenster im Erdgeschoss des wuchtigen Landsitzes zwischen den Bäumen auszumachen, die zu Issams kleiner Wohnung gehörten. Dann tauchte das helle Viereck der offenen Gartentür vor ihnen auf.
Der Arzt trat eben ins Freie und verdunkelte das Viereck für einen Moment. Mit ein paar schnellen Schritten war er bei ihnen, beugte sich kurz über den Bewusstlosen und nickte den beiden Trägern ernst zu, während er ihnen wortlos die Tür zu seinen Klinikräumen aufhielt.
"Was ist mit der Barriere?", fragte er seinen Freund leise, nachdem auch der Steward an ihm vorbeigegangen war.
"Verschwunden", gab Tariq knapp zurück.
Der Arzt blinzelte überrascht, doch als keine weitere Erklärung folgte, nickte er und folgte den beiden Guardians in die Klinik.
Shujaa war mit Tariq im kleinen Foyer zurückgeblieben. Der Neunzehnjährige starrte wie gebannt auf das Blut, das bei dem kurzen Stopp von Ahmads rechter Hand auf den Boden neben Tariqs Füßen getropft war.
"Verdammt, Tariq", stieß er hervor, ohne den Blick zu heben, "er kommt doch durch, oder?" Es war nur geflüstert, als würde er befürchten, mit seiner Stimme das Unfassbare erst möglich zu machen.
Der Chef seufzte ratlos. "Ich weiß es nicht. Er sah nicht gut aus, aber ich hoffe, dass der Doc es verhindern kann."
Gerade wollte er sich mit den Fingern durch die Haare fahren, da bemerkte er im letzten Moment das Blut an seiner Hand und ließ sie sinken.
Stumm warteten sie. Nach wenigen Augenblicken verließen Senad und Trajan die Klinik und standen mit betretenen Gesichtern vor ihnen.
"Senad, du musst die neue Alarmanlage sofort in Betrieb nehmen", ordnete Tariq an. "Mir egal, ob sie geprüft wurde oder nicht."
Der dunkelhaarige Guardian mit den ungewöhnlich hellgrünen Augen nickte, ohne zu fragen. Er hatte die Dringlichkeit in der Anweisung deutlich hören können.
"Und - vorerst zu niemandem ein Wort über diese Sache hier", fuhr Tariq ernst fort. "Das mache ich morgen früh selbst. Besprechung um halb acht, sorgt dafür, dass alle da sind! Ich werde nochmal bei Issam reinschauen. Gute Nacht und vielen Dank."
Die drei jungen Männer, die im Augenblick eher wie verstörte Kinder wirkten, nickten gehorsam. Einen Moment zögerten sie noch, als wollten sie nicht weggehen. Doch dann drehten sie sich um und verschwanden in dem schmalen Korridor, der zum Haupthaus führte. Ihre Schritte hallten erst auf den blanken Bodenfliesen, dann änderte sich ihr Klang, als sie die Holztreppe hinaufstiegen.
Tariq lauschte ihnen noch einen Augenblick nach, dann wandte er sich der Tür zur Klinik zu.
Dienstag, 23:20 Uhr
"Wie sieht es aus?"
Obwohl Issam seine Frage verstanden hatte, antwortete der zweiundvierzigjährige Arzt nicht sofort. Gerade hatte er Tanyel vorsichtig dabei geholfen, Ahmad auf den fahrbaren Behandlungstisch in der Mitte des Raumes zu legen. Jetzt schaltete er eine grelle Lampe darüber an und musterte kritisch die Kopfverletzung. "Er hat viel Blut verloren", knurrte er gleich darauf, während er seine Finger behutsam tastend neben der Wunde über Ahmads Kopf gleiten ließ.
"Sauerstoff", wies er Tanyel knapp an.
Der Steward hatte den Regler schon aufgedreht und legte eben die Maske auf das wachsbleiche, blutverschmierte Gesicht.
Issam selbst befestigte einen Clip an Ahmads Finger. Als gleich darauf gleichmäßige, aber hastig aufeinanderfolgende Pieptöne erklangen, nickte er grimmig. "Mach eine Infusion fertig, Tanyel! Tariq, da unten im Schrank sind die Flaschen, die mit der blauen Schrift. Und nimm gleich zwei. Obwohl, bei der Menge Blut, die er verloren hat …"
Tariq fand die Flaschen und reichte sie Tanyel.
Issam hatte bereits einen Zugang gelegt und schloss eine Infusion an. Dann zog er ein Medikament in einer Spritze auf. Es sollte seinen Patienten in Tiefschlaf versetzen und schmerzfrei machen. "Komm schon, Ahmad, was ist los mit dir? Wo sind deine sagenhaften Heilfähigkeiten abgeblieben?", raunte er besorgt, während er es langsam injizierte.
Die Wunde an der Schulter, die er dabei flüchtig musterte, entlockte ihm einen unterdrückten Fluch. Er griff sich eine Schere und schnitt den Ärmel des schwarzen Mantels kurzerhand auf. Sekunden später flog das Kleidungsstück beiseite, gefolgt von dem gleichfarbigen Shirt, dem es nicht anders erging.
Als Ahmads Oberkörper endlich frei lag, trat schlagartig Stille ein.
Tanyel hörte, wie der Doc scharf die Luft einzog. Auch er selbst starrte entsetzt auf das Flechtwerk dünner weißer Narben, das sich über Ahmads Brust zog wie ein feines Spitzengewebe.
Issam besann sich. Er holte ein Stethoskop und hörte konzentriert den Brustkorb ab, während er beobachtete, wie Tariq einen Schritt näher kam und mit gefurchter Stirn die unzähligen wirren Linien musterte. Obwohl er kein Wort sagte, wusste Tanyel, dass der Chef genau wie der Arzt und er selbst dieses Bild kannte. Keiner von ihnen dreien sah das filigrane Narbengeflecht zum ersten Male.
"Okay, die Lunge ist verletzt", verkündete Issam, "wahrscheinlich gebrochene Rippen. Er blutet innerlich." Sein Finger deutete auf eine ebenfalls violett verfärbte Stelle auf Ahmads linker Brust. Mit raschen Handgriffen brachte er das Röntgengerät, das direkt über dem Behandlungstisch hing, in Position.
Als er dann kurz darauf - auf seinen Schreibtisch gestützt - die fertige Aufnahme am Computerbildschirm betrachtete, verfinsterte sich sein Gesicht.
"Was ist?", fragte Tariq.
Sein Freund nahm sich Zeit mit der Antwort. Eine Weile starrte er noch auf das schwarzweiße Bild und kratzte sich mit der Rechten an seinem gepflegten Dreitagebart, dann richtete er sich auf. "Tariq, drück eine große Kompresse auf die Wunde an der Schulter", kommandierte er, "und Tanyel, du musst mir mal assistieren."
"Was hast du vor?" Der Steward schaute ihn skeptisch an. Er hatte keinerlei medizinische Ausbildung und war dem Arzt bisher nur ein paar Mal bei Kleinigkeiten zur Hand gegangen.
"Ich werde hier einen Eingriff vornehmen." Issams Zeigefinger tippte auf eine Stelle auf dem Bildschirm. "Und zwar sofort." Mit wenigen Worten erklärte er, was nötig war.
Tariq runzelte die Stirn und schluckte. Auch Tanyel schien sich nicht sicher, ob er sich für das, was er laut Issams Erklärung zu tun hatte, eignete.
Doch der ließ keine Diskussion zu. Und er gab ihm auch keine Gelegenheit, sich Gedanken zu machen. Die Zeit drängte.
Nach zehn Minuten schon waren sie fertig. Erleichtert zog sich der Arzt den Mundschutz unters Kinn und streifte die Handschuhe ab. Sie hatten es geschafft. Die Verletzung an der Lunge war versorgt und Ahmad atmete ruhiger. Noch einmal lauschte er mit dem Stethoskop lange und konzentriert an verschiedenen Stellen von Ahmads Brust, bis er schließlich zufrieden nickte.
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