Sie ließen sich kurz die Lage erklären. Magnus Andersen wies den abweisenden Beamten aus Bergen an, die Damentasche an sich zu nehmen und deren Inhalt zu überprüfen. Der Troll schrie bei diesem Versuch wieder laut auf und vergrub die Tasche unter seinen mächtigen, vor der Brust verschränkten Oberarmen. Die tröstende Polizistin sprach weiter besänftigend auf Børre Thorsen ein, bis er ihr die bunte Handtasche überließ.
Im Inneren fand sich ein rosafarbenes Handy der Marke Samsung Galaxy S 10 sowie eine Geldbörse samt Ausweis einer 19-jährigen jungen Frau mit langem blonden lockigen Haar.
Magnus Andersen nahm das Zepter der Ermittlungsführung an sich. „So, Kollegen, Børre Thorsen ist wegen Mordverdacht festgenommen. Ingrid, fahr bitte mit in die Bergener Dienststelle und veranlasse alles Notwendige. Sicherstellung seiner Klamotten, rechtsmedizinische Untersuchung, Sicherung der Blutspuren, erkennungsdienstliche Behandlung samt Speichelabstrich zum DNA-Abgleich. Versucht, ihn in psychologischer Begleitung zu vernehmen. Vielleicht gibt es schon einen Betreuer, der euch unterstützen kann. Bitte das volle Programm.“
Ingrid Larsen nickte nur und bat die uniformierte Polizistin: „Sie haben einen guten Draht zu ihm. Würden Sie uns bitte begleiten?“
Erst nach einem vorwurfsvollen Blick des bulligen Beamten aus Oslo, legte der genervte Polizist dem Tatverdächtigen Handschellen an und führte ihn zum Einsatzwagen.
Die sichergestellte Tasche wurde in einer transparenten Spurensicherungstüte transportiert und am Tatort den Kriminaltechnikern übergeben.
Während die Spezialisten den Tatort weiter akribisch abarbeiteten, fuhren Carlotta und Thorsten mit Politibetjent 1 Larsen in die Bergener Dienststelle, dem Hordaland Politidistrikt, und ließen sich als Zeugen zum Leichenfund und der Verfolgungssituation am Tatort vernehmen.
Das restliche Profilerteam hatte sich zwischenzeitlich beraten, zur Talstation zu fahren, um sich im Zentrum von Bergen die Beine zu vertreten und auf die beiden Kollegen zu warten.
In der Mittagssonne schlenderte das Viererteam aus Hannover durch die schmalen Gassen und engen Passagen des beeindruckenden Hafenviertels Bryggen, in dem die Vergangenheit Bergens wieder lebendig zu werden schien.
Im Jahre 1702 waren die meisten Bauwerke in Bryggen durch einen Großbrand zerstört worden. Beim Wiederaufbau hatte man den alten Baustil wieder hergerichtet, sodass die Architektur mit aktuell 61 denkmalgeschützten Gebäuden heute noch wie im 12. Jahrhundert wirkt und zu einem der bekanntesten Mittelaltervierteln Norwegens zählt.
Sie erwarteten jederzeit den Anruf von Thorsten und Carlotta und waren nicht nur gespannt, was die Ermittlungen ergeben hatten. Die vier Profiler hatten die Befürchtung ihres Leiters nicht ernst genommen und mussten akzeptieren, dass sich die Entspannungsphase ihrer Kreuzfahrt dem Ende zuneigte.
Carlotta und Thorsten wurden von unterschiedlichen Beamten des Hordaland Politidistrikts zeitgleich als Zeugen vernommen. Die Politibetjents Larsen und Andersen hatten sich aufgeteilt. Sie unterstützten nicht nur als Dolmetscher, sondern konnten auch ihre Informationen zum Mord von Oslo in die aktuellen Ermittlungen mit einbringen. Ingrid war bei der Befragung der Psychologin und Magnus bei der des OFA-Leiters zugegen.
Die Vernehmung führte ein junger dynamischer Politiadvokat in Uniform, der offensichtlich der Leiter der hiesigen Mordermittlungen war. Nach den allgemeinen Fragen zu seinen Beobachtungen versuchte Thorsten Büthe seine Vermutung zu begründen, dass sein Profilerteam durch die ihm zugesteckte Skizze gezielt zum Leichenfundort geführt werden sollte. Weiter führte er aus, dass das Tötungsdelikt in Oslo unbedingt mit in einen vermutlichen Serienkontext einbezogen werden sollte. Schließlich wiesen nicht nur das Opferbild, sondern auch die Tötungsart sowie die Ablagesituation starke Übereinstimmungen auf. Sowohl die aktive Einbindung seiner Person in Form eines Koffertransporteurs als auch das Deponieren einer Tatortkarte mit gezieltem Hinführen zu dem Leichnam im Trollskogen spreche für Parallelaspekte inszenierten Täterhandelns.
„Woher wissen Sie denn von der Fundsituation des Leichnams, der Tötungsart und dem Opferbild in Oslo, Herr Büthe? Waren Sie nicht selbst tatverdächtig?“, fragte der Politiadvokat mit einem vorwurfsvollen Blick in Richtung der Politibetjents 1.
Andersen verzog eine Augenbraue und erahnte, von wem der LKA-Beamte diese Information erhalten hatte. Aber Magnus ließ sich nichts anmerken und setzte seine Unschuldsmiene auf.
Die provozierte Ruhe wurde von einem Telefonklingeln gestört. Der Ermittlungsführer nahm den Anruf an, machte sich Notizen und beendete das Gespräch mit einem Lob für eine super Arbeit.
„So, die Tat ist wohl schnell geklärt. Børre Thorsen hat sich in seiner Befragung in erhebliche Widersprüche verwickelt. Die Tasche gehörte dem Opfer. Das Blut an seinen Händen, Armen und der Kleidung auch. Das reicht vollkommen“, resümierte der Polizeichef aufatmend.
„Magnus, glaubst du das im Ernst? Frage deinen Chef bitte, ob er das wirklich denkt. Warum, wann und wo sollte Børre Thorsen mir eine Skizze des Tatorts zugesteckt haben? Warum sollte er das Opfer töten, skalpieren und dann nackt in einer derart degradierenden Position ablegen? Dieser Täter versendet Botschaften. Erst in Oslo und dann in Bergen. Ach ja, eine kleine Prognose vom deutschen Touristen: Er wird weitermachen! Ich würde mich sogar noch weiter festlegen: Und zwar im nächsten Hafen, in dem die ,Norwave‘ festmacht. Verdammt! Lasst uns endlich zusammenarbeiten!“, flehte er Politibetjent 2, Magnus Larsen, an.
An der Stimmlage seiner Übersetzung konnte Thorsten erkennen, dass sich der Ermittler für seinen Vorschlag eingesetzt hatte, aber es kam ganz anders. Der Politiadvokat hielt einen langen unfreundlichen Monolog, den Magnus Andersen nicht gern und vor allem nicht vollständig übersetzte.
„Herr Büthe, erstens muss ich hier formell bleiben. Zweitens hat in Bergen niemand ein Interesse an einer Unterstützung durch ein deutsches Landeskriminalamt. Drittens habe ich gerade einen riesengroßen Einlauf bekommen, weil Sie die Informationen über den Fall in Oslo herausposaunt haben. Vielen Dank dafür. Wenn es nach ihm ginge, würde er sie sofort wieder festnehmen, da der Mord hier in Bergen ja nun geklärt ist und Ihre Rolle in diesen beiden Fällen dubios bleibt. Ihre Skizze wird beschlagnahmt, und ich soll Sie umgehend aufs Schiff bringen. Das Einzige was er tun könne, sei eine Belobigung ans LKA Niedersachsen, dass Ihr Kollege außerhalb des Dienstes und während eines Urlaubsaufenthaltes in Bergen, einen Mörder festgenommen hat. Andererseits könne er auch ganz andere Dinge nach Deutschland melden. Und jetzt sollten wir einfach fahren“, schlug der Politibetjent 2 resigniert vor.
Sie sammelten Carlotta Bayer-Westholdt sowie Politibetjent 1 ein und fuhren direkt zum Anleger der „Norwave“. Thorsten hatte sein Team telefonisch informiert, dass sie bereits an Bord gehen sollten und dass sie sich später treffen würden.
Im Polizeifahrzeug diskutierten die deutschen und norwegischen Kollegen über den bisherigen Ermittlungsstand und die aktuelle Entwicklung. Magnus Andersen war frustriert. „Wir sehen das genauso und glauben, dass die Taten zusammengehören. Wir haben hier in Bergen aber keine Weisungsbefugnis. Uns sind also die Hände gebunden.“
„Ihr wisst aber auch, was passieren wird. Der Täter könnte wieder mit der ,Norwave‘ weiterreisen, und im nächsten Hafen geht dieses Spiel munter weiter. Dann können die Ermittler in Stavanger mich wieder als Mordverdächtigen vernehmen oder ihr habt jetzt mal den Arsch in der Hose, das in Oslo klären zu lassen“, forderte der LKA-Beamte ein.
„Lasst uns mal in Ruhe überlegen, wie wir Herrn Olsen überzeugen können, am Ball zu bleiben“, schlug Ingrid Larsen vor.
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