Volker Dützer
Die Unwerten
Roman
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind, sofern nicht im Nachwort erläutert,
rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Immer informiert
Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie
regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.
Gefällt mir!
Facebook: @Gmeiner.Verlag
Instagram: @gmeinerverlag
Twitter: @GmeinerVerlag
Besuchen Sie uns im Internet:
www.gmeiner-verlag.de
© 2020 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
info@gmeiner-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten
2. Auflage 2020
Lektorat: Daniel Abt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (Abt. 3008/1, Nr. 1012)
Druck: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN 978-3-8392-6364-8
Für meine Eltern, die diese dunkle Zeit
noch erlebt haben und deren Erinnerungen ich
als Kind so gerne gelauscht habe.
Wolkenbilder sind sehr schön, doch kann sie nicht jeder sehen.
(John Elsas, 1851–1935)
Charaktere in der Reihenfolge ihres Auftritts
Historische Personen sind mit einem * gekennzeichnet.
Hannah Bloch: Halbjüdin
Reinhold Pilz: Mathematiklehrer, überzeugter Nationalsozialist
Heinrich Berthold: Schulleiter
Malisha Bloch: Hannahs Mutter
Joschi: Hannahs stummer Beschützer
Jakob Blumberg: jüdischer Arzt
Joachim Lubeck: Psychiater, SS-Untersturmführer
Werner Heyde *: Professor für Psychiatrieund Neurologie, Leiter der medizinischen Abteilung der »Euthanasie«-Zentrale und Obergutachter der Euthanasie-Aktion T4
Irmfried Eberl *: medizinischer Leiter der Tötungsanstalt Brandenburg ab Januar 1940
Viktor Brack *: Oberdienstleiter KdF (Kanzlei des Führers) Amt 2
Philipp Bouhler *: Chef der KdF, von Hitler mit der Organisation der Aktion T4 beauftragt
Werner Blankenburg *: Vertretung von Brack
Karl Brandt *: chirurgischer Begleitarzt von Adolf Hitler
Ernst Baumhard *: Oberarzt in der Tötungsanstalt Hadamar Dezember 1940 bis Juni 1941
*
Christian Wirth *: Büroleiter der Tötungsanstalt Brandenburg, ab 1941 Büroleiter in Hadamar
Fritz Brunner: Leiter des Anstaltswesens Hessen-Nassau und Landesrat
Heinz Borsig: Fritz Brunners Adjutant, Mädchen für alles
Claudius Brendel: katholischer Priester
Schwester Agnes: Oberin des Nonnenklosters Schwes-tern der barmherzigen Maria in Seck
Schwester Katharina: Nonne
Schwester Gertrud: Nonne
Arthur Leppin: Passfälscher, Kleinganove
(Mr. Smith)
Robert Krüger: Kriminalkommissar der Gestapo
Horst Schulze: sein Folterknecht
Elisabeth Brunner, geb. zu Hohensolms: Fritz Brunners Ehefrau
Ruth und Thea: ausgekochte Zwillinge
Obermayer
Helma: ihre Zimmergenossin
Hannelore Kowalski: Oberschwester der Zwischenanstalt Herborn
Hermann Pfannmüller *: Psychiater und T4-Gutachter
Wilhelm Traupel *: Landeshauptmann, Brunners Vorgesetzter
Jakob Sprenger *: Gauleiter von Hessen-Nassau
Friedrich Mennecke *: T4-Gutachterarzt
Dr. Paul Schiese *: Anstaltsdirektor in Herborn
Herbert Moor: Arzt in der Zwischenanstalt Herborn
Schwester Franziska: seine Sekretärin
Deubel
*
Christel: Dienstmagd im Haus Brunner
Leni: Köchin im Haus Brunner
Heinrich Richter (Hein das Wiesel): unehelicher Sohn von Franz Schickl und dessen Sekretärin Ilse Richter
*
Josef: polnischer Zwangsarbeiter
Rudolf Klee: Brendels Mentor, alter Pfarrer
Antonius Hilfrich *: Bischof von Limburg
Clemens August : Bischof von Münster
Graf von Galen *
Adolf Wahlmann *: Leitender Oberarzt der Anstalt Hadamar 1942–45
Irmgard Huber *: Oberschwester der Anstalt Hadamar
Hans Simonek: verwundeter Obergefreiter
Karl und Hildegard Simonek: seine Großeltern
Kalle: Ruths Mann fürs Grobe, ihr Joschi
Ernst Weber: Kiesgrubenbesitzer
Willi Wetzel: todkranker Tagelöhner
Gottfried Petzold: Kneipenwirt
Scott Young: Lieutenant der US Air Force
Rolf Heyrich: Bürgermeister, SS-Oberscharführer
Teil 1 Der zerbrochene Himmel
Das Notizbuch mit dem speckigen roten Einband landete klatschend auf dem Schreibpult. Die meisten Schüler versuchten, ihre Anspannung zu verbergen, aber es gelang den wenigsten. Hannah zuckte zusammen, als hätte Pilz sie geohrfeigt.
»Heil Hitler«, brüllte er.
Die Klasse brüllte zurück. Die Heranwachsenden machten sich einen Spaß daraus, die heisere Stimme des Mathematiklehrers zu übertönen. Pilz war ein untersetzter Zwerg, kaum größer als Hannah mit ihren vierzehn Jahren, und er war sich seiner mickrigen Erscheinung nur allzu bewusst. Darum bemühte er sich, das fehlende Volumen seiner Stimme auszugleichen, indem er auf den Zehenspitzen wippte und seine Tonlage erhöhte. Heraus kam ein Fiepen, das dem Quietschen nasser Kreide auf einer Schiefertafel ähnelte.
Pilz reckte das Kinn vor, presste die Lippen zusammen und ließ seine Blicke über die Reihen wandern. Manchmal griff er sich einen Schüler heraus, um ihn vor den anderen lächerlich zu machen, bevor der eigentliche Unterricht begann. Hannah hatte bisher nicht herausgefunden, ob er nach einem bestimmten Muster vorging oder nur einer Laune folgte.
»Setzen!«
Stuhlbeine scharrten, Stoff raschelte. Der dicke Koschka – er saß links von Hannah auf der Fensterseite – schwitzte in seiner stramm sitzenden HJ-Uniform. Das khakibraune Hemd war ihm aus dem Hosenbund gerutscht, ein rosiges Speckröllchen quoll hervor. Niemand wagte zu atmen, alle starrten auf das rote Notizbuch.
Pilz hatte die Angewohnheit, jeden Freitag Noten zu verteilen, und auch an diesem 22. Dezember 1939, dem letzten Schultag vor Weihnachten, machte er keine Ausnahme. Mit Vorliebe stellte er Aufgaben, die nicht zu lösen waren und nur dem Zweck dienten, den Prüfling bloßzustellen. Anschließend hagelte es Fünfen und Sechsen. Pilz legte eine zackige Kehrtwende hin, marschierte zu seinem Pult und schrieb etwas an die Tafel.
»Was bedeutet diese Zahl?«
Koschka schnellte hoch. »Die Einwohnerzahl von Frankfurt, Scharführer.«
»Richtig, Koschka.« Pilz’ Mundwinkel zuckte, ein zufriedenes Lächeln huschte über sein rotfleckiges Gesicht. »Den Scharführer lassen wir heute mal zu Hause.«
Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken, stolzierte durch den Mittelgang und schoss eine seiner berüchtigten Fangfragen ab: »Wie viele Schüler würde es in den Frankfurter Gymnasien geben, wenn die arischen Eltern ihre Kinder in dem gleichen Umfang an eine höhere Schule geschickt hätten wie die Juden?«
Pilz blieb neben Hannahs Bank stehen. Die Schüler hielten die Luft an. Wen würde es treffen?
Читать дальше