1 ...8 9 10 12 13 14 ...24 »Blumberg hat angedeutet, dass sie Kranke umbringen, Schwachsinnige und Behinderte«, sagte Malisha. Sie senkte ihre Stimme zu einem heiseren Flüstern, Hannah musste sich anstrengen, um ihre Worte zu verstehen.
»Eines muss man den Nazis lassen«, erwiderte der unbekannte Mann, »sie wissen, wie man den Massenmord organisiert. Ja, es stimmt. Blumberg hat sich Zugang zu Todesfallstatistiken psychiatrischer Kliniken besorgt. Die Zahl tödlicher Lungenentzündungen und Embolien ist explodiert. Sie beschäftigen einen ganzen Stab von Ärzten, die falsche Totenscheine ausstellen. In Grafeneck unten bei Reutlingen soll es eine Anstalt geben, in der sie Kranke mit Gas töten.«
Malisha gab ein ersticktes Wimmern von sich. »Aber warum? Was haben diese armen Menschen denn getan?«
»Die Nazis sind besessen von der Reinhaltung der arischen Rasse. Sie werden nicht aufhören zu morden, bevor die ganze Welt in Schutt und Asche liegt.«
Hannah hörte das Klicken eines Feuerzeugs.
»Ihr müsst so schnell wie möglich raus aus Deutschland. Ich habe Freunde in Hamburg, die euch eine Schiffspassage besorgen werden.«
»Und wo sollen wir hin?«, fragte Malisha.
»Warum gehst du nicht nach England?«
»Steve ist verheiratet. Ich will ihn nicht in Schwierigkeiten bringen.«
Der Mann lachte. »Er hat dich in Schwierigkeiten gebracht.«
Hannah war plötzlich hellwach. Nun kannte sie endlich den Namen ihres Vaters. Er hieß Steve, und er lebte in England.
»Du sprichst doch ganz passabel Englisch«, fuhr der Mann fort. »Damit kommst du überall durch. Am besten geht ihr in die USA. Joschi wird euch begleiten.«
»Das kann ich nicht verlangen.«
»Er wird es freiwillig tun. Du hast dem guten Kerl das Leben gerettet, das vergisst er dir nicht. Außerdem hat er einen Narren an der Kleinen gefressen. Sicher, er ist nicht der schönste Mann, den man sich vorstellen kann, aber er hat ein großes Herz und Kräfte wie ein Bär.«
Malisha schien nachzudenken.
»Die Amerikaner nehmen keine Emigranten mehr auf, schon gar keine jüdischen«, entgegnete sie.
»Du hättest eben schon vor Jahren auswandern sollen.«
»Niemand hat geglaubt, dass es so schlimm kommen würde«, antwortete Malisha.
»Du hast doch ein bisschen was gespart. Für den Anfang wird es reichen. Wenn du dich entschließt, das Gewerbe zu wechseln, könntest du reich werden, gleich wohin du gehst. Die Kerle sind verrückt nach dir.«
Hannah setzte sich auf, ihr Herz pochte schmerzhaft gegen ihre Rippen. Joschi regte sich in seinem Sessel. Sie musste ihre Mutter überzeugen, nach England zu gehen. Dann würde sie endlich ihren Vater kennenlernen.
»Ich kann auf andere Weise Geld verdienen«, sagte Malisha.
»Wie du meinst, es war ja nur ein Vorschlag. Arthur wird euch neue Papiere besorgen, er ist der beste Fälscher, den ich kenne. Damit kommt ihr überall durch«, sagte der Mann. »Kannst du bis elf im Laden aushelfen? Maja ist krank, die Lunge wieder mal.«
»Ja, natürlich. Du kannst dich auf mich verlassen.«
Fort! Deutschland verlassen! Hannah hatte in Büchern von Helden gelesen, die Hals über Kopf fliehen mussten. Ihre anfängliche Begeisterung wich einer aufkeimenden Furcht. Dies hier war kein Abenteuerroman, sondern die Wirklichkeit. Ihr Leben verwandelte sich ohne Vorwarnung in einen Albtraum. Hannah wollte nicht fort, sie hatte Freunde hier in Frankfurt. Das alles musste ein schrecklicher Irrtum sein.
»Malisha?«, krächzte sie heiser.
Joschi war sofort wach, stemmte sich aus dem abgewetzten Ohrensessel hoch und kam herüber.
Malishas vertrautes Gesicht tauchte im Lichtkegel der Lampe auf. »Wie geht es dir?«
»Mir fehlt nichts. Aber ich will nicht fort von hier, ich …«
»Hat sie gelauscht? Gib ihr was, damit sie schläft«, rief der Mann aus der Küche.
Joschi reichte ihr ein Glas. Er war nicht eher zufrieden, bis sie es ausgetrunken hatte. Das Wasser hatte einen bitteren Beigeschmack.
»Schlaf jetzt«, beruhigte ihre Mutter sie. »Morgen sieht alles anders aus.«
Hannah ließ den Kopf auf das Kissen sinken. Er fühlte sich mit einem Mal federleicht an. Das Letzte, an das sie dachte, war das rote Kreuz auf dem Meldebogen des Arztes.
»Sie machen ein Gesicht, als hätte ich Sie zu einer Beerdigung eingeladen und nicht in ein Nachtlokal, Lubeck.«
Heinz Borsig stopfte den leeren Ärmel in die linke Manteltasche, lehnte sich vor und klopfte auf die Rückenlehne des Beifahrersitzes.
»Zur Pagode, aber dalli!« rief er vergnügt.
Das Taxi, ein schwarzer Mercedes Benz 170 V, setzte sich in Bewegung.
»Lassen Sie mich raten«, schnatterte Borsig weiter, »Brunner hat Sie bis zum Hals mit Arbeit eingedeckt.«
Lubeck lächelte gequält. »Über mangelnde Beschäftigung kann ich nicht klagen, das stimmt wohl.«
»Das sieht dem Leuteschinder ähnlich. Es wird höchste Eisenbahn, dass Sie auf andere Gedanken kommen. Ich wette, Sie haben von Frankfurt noch nichts gesehen außer den verknöcherten Krankenschwestern in der Klinik.«
»Ich bin tatsächlich noch nicht dazu gekommen, mir die Stadt anzusehen.«
»Das holen wir alles nach.« Borsig schlug ungeduldig auf die Sitzlehne. »Tempo, mein Guter. Nicht, dass unser junger Freund einen Samenstau erleidet.«
Der Fahrer gab Gas. Lubeck fühlte sich peinlich berührt. Am liebsten hätte er die Berge von Meldebögen, die er ausfüllte, als Entschuldigung vorgebracht. Aber es war Brunner höchstpersönlich gewesen, der ihn in Borsigs Obhut übergeben hatte. Als er vor einer Woche im Vorzimmer von Brunners Büro gewartet hatte, um sich vorzustellen, hatte sich bestätigt, was er zuvor über den Leiter des Anstaltswesens von Hessen-Nassau in Erfahrung gebracht hatte. Brunners Gebrüll hatte selbst die gepolsterte Eichenholztür durchdrungen. Kurz darauf war ein schmächtiges Männlein mit käsigem Gesicht herausgekommen und eingeschüchtert durch das Vorzimmer gehuscht.
Obwohl Lubeck sich nicht für einen guten Menschenkenner hielt, hatte er gelernt, die gefährliche Sorte auf den ersten Blick zu erkennen. Bei Brunners Anblick schrillten sofort seine Alarmglocken. Er war ein herrschsüchtiger Despot, der keinen Widerspruch duldete. Eitel und empfindsam, was sein eigenes schwaches Ego anbetraf, dazu übermäßig hart zu Untergebenen mit einem Hang zur Grausamkeit. Gerüchten zufolge strickte er mit Vorliebe Intrigen. In einem Personalbericht der SS wurde er als ausgesprochener Willensmensch beschrieben, der selbst seinen Vorgesetzten oft zu weit ging.
Erleichtert hatte Lubeck zur Kenntnis genommen, dass er überwiegend im Frankfurter Universitätsklinikum arbeiten würde, und somit nicht unter der unmittelbaren Kontrolle Brunners stand. Allerdings hatte er ihm jeden Freitag Bericht zu erstatten. In der Zwischenzeit begutachtete er Patienten mit geistigen oder körperlichen Beeinträchtigungen und entschied, was mit ihnen zu geschehen hatte. Als er sein erstes rotes Kreuz in einem Meldebogen vermerkte, hatte seine Hand gezittert. Er fühlte sich als Herr über Leben und Tod, als Richter, der bewusst ein Todesurteil fällt, aber zu seiner Überraschung fand er keinen rechten Gefallen daran. Am Abend betrank er sich bis zur Besinnungslosigkeit und konnte zwei Tage lang nicht zum Dienst erscheinen. Er schob eine Magenverstimmung vor, doch Brunner ließ ihm die Meldebögen nachschicken, damit er zu Hause weiterarbeiten konnte. Unter den T4-Gutachtern hatte sich inzwischen eingebürgert, die Patienten gar nicht mehr persönlich in Augenschein zu nehmen.
Lubeck stellte fest, dass ihm die Entscheidung leichter fiel, Kranke ins Gas zu schicken, wenn er ihnen nicht ins Gesicht sehen musste. In den meisten Fällen entschied er nach den spärlichen Fakten auf den Meldebögen, die von niedergelassenen Ärzten und aus psychiatrischen Kliniken stammten. Als er sich verwundert über den ungeheuren organisatorischen Aufwand äußerte, zitierte Brunner: »All unsere Arbeit hat dem deutschen Volke zu dienen. Der Aufwand für Erbkranke und Asoziale ist so niedrig wie irgend möglich zu halten. Was wir jetzt tun, ist das einzig Richtige: lebensunwertes Leben zu beenden.«
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