»Ach, die arme Tinka!« Unvermutet ragte Bea Wulf neben Sina auf, ein Weizenbierglas in der Hand. »Sie leidet natürlich doppelt.«
»Doppelt? Es ist aber doch nur das eine Auge, oder?« Sina verstand nur Bahnhof.
»Auge?« Völlig ungeniert musterte Bea die junge Frau in der Nische. »Stimmt, du hast recht! Ob Kante ihr eine gefenstert hat? Na warte, dieser Lump, dem sollte man …«
Sina kannte Beas aufbrausende Art ebenso gut wie ihren Beschützerinstinkt gegenüber Geschlechtsgenossinnen und schob sich ihr schnell in den Weg. Zum Glück beruhigte sich die Gastwirtin stets ebenso rasch, wie sie sich echauffierte. »Ja, schlimm, echt!«, stimmte Sina ihr zu. »Aber wieso denn eigentlich?«
»Wieso? Na, weil Tinka doch mit Karl zusammen ist!«
»Wer ist denn Karl? Und wieso ist das ein Grund?«
Bea stöhnte über so viel Uninformiertheit. »Karl Antes ist Kante, der Typ da mit den Schultern! Mit dem ist Tinka zusammen, ein halbes Jahr schon. Aber ich weiß aus sicherer Quelle, dass sie außerdem nebenbei was am Laufen hatte.«
»Deswegen das blaue Auge, aha.« Sina verzog das Gesicht. Was waren das nur für Kerle, die Frauen als ihr Eigentum betrachteten! Oder als Leibeigene, die man züchtigen durfte. Unglaublich, in welchem Land und in welcher Epoche lebten die denn! Dann endlich dämmerte ihr etwas. »Nebenbei was am Laufen? Du meinst doch nicht etwa …«
»Doch, das meine ich.« Beas Miene verdüsterte sich. »Mit Robin. Robin Seefeld. Unserem kleinen grünen Umweltkämpfer Robin Hood.« Ein tiefer Seufzer dehnte ihre Brust; Sina musste ihr Glas eilig in Sicherheit bringen. »Ich hab die beiden mal beobachtet, ganz zufällig natürlich. Total süß waren die zusammen. Das hat echt richtig gepasst mit denen.«
»Ach herrje.« Sina wurde sich bewusst, dass sie Tinka und Karl seit Sekunden anstarrte. Zum Glück hatte Karl, genannt Kante, nur Augen für Tinka, und die hielt ihren Blick gesenkt. »Und was hat dieser Kante dazu gesagt?«
»Na ja, Kante ist kein Freund vieler Worte, auch wenn das im Moment ganz anders aussieht«, sagte Bea. »Und ein Schnellmerker ist er auch nicht. Ist ja auch so, dass er an Bord seines Dampfers viele Arbeiten gerade dann erledigen muss, wenn das Schiff nicht in Fahrt ist, sondern im Hafen liegt. Während Tinka als Servicekraft arbeitet. Wenn die Gäste von Bord sind, kann sie auch an Land. So hatte sie ein gewisses Zeitfenster.«
»Ganz zufällig hast du die beiden mal beobachtet, ja?« Sina konnte nicht anders, sie musste breit grinsen. »Ganz zufällig! Donnerwetter, dafür bist du aber sehr gut informiert.«
»Na ja, man interessiert sich eben für seine Mitmenschen.« Völlig unbeeindruckt trank Bea einen großen Schluck aus ihrem Weizenbierglas.
»Aber irgendwann ist Kante den beiden Süßen auf die Schliche gekommen«, kombinierte Sina. »Dann hat er Tinka verkloppt. Und jetzt sind die beiden trotzdem zusammen. Muss ich das verstehen?«
»Was soll ich sagen, Sinchen, der Mensch braucht eben jemanden zum Anlehnen, nicht? Weißt du doch.« Wieder seufzte Bea. Sie hatte niemanden zum Anlehnen, und zwar schon seit geraumer Zeit, das wusste Sina. Schnell senkte sie ihren Blick in ihr Alsterglas. Bea klopfte ihre Taschen ab. »Ich geh raus, eine dampfen. Kommst du mit?«
»Eigentlich rauche ich nicht mehr.« Sina gefiel der Gedanke, für ein paar Minuten aus diesem Getümmel herauszukommen. »Aber wenn du eine für mich hättest, so ausnahmsweise …«
»Ich sagte dampfen. Nicht rauchen. Mensch, Sina, ich rauch doch nicht mehr. Werde mir doch meine schöne Lunge nicht mit Teer zukleistern.« Sie zog ein Gerät aus der Jackentasche, das entfernt an einen Akku erinnerte – mit einem kleinen Sauger seitlich oben dran. Sina nahm einen fruchtigen Geruch wahr, mit Spuren von Lakritze.
»Du also auch?« Sina zuckte mit den Schultern. »Egal, ich komme trotzdem mit raus. Frische Luft ist auch etwas Feines.«
Im Hinausgehen warf sie einen letzten Blick auf das rot-weiß geringelte Pärchen in der Nische. Auf die kleine Tinka, die sich in Robin Seefeld verliebt und ihren Freund betrogen hatte. Und auf Karl Antes, ihren Freund, nicht ohne Grund Kante genannt. Er war Tinka auf die Schliche gekommen. Jetzt hatte sie ein blaues Auge. Und Robin war tot.
Bea konnte es anscheinend gar nicht abwarten, vor die Lokaltür zu kommen; sie pflügte durch die Menschentrauben wie ein Dampfer durch Schönwetterwellen. Sina folgte in ihrem Kielwasser.
Stahnke legte sein Smartphone auf den Dinettentisch. »Ich zeichne unser Gespräch auf«, konstatierte er. »Nennen Sie bitte Ihren Namen und Ihren Wohnort.«
»Ist das überhaupt zulässig?« Maik Schubert saß breit auf der Polsterbank, die dicken Arme verschränkt. Sein Ton klang schon wieder ganz schön aufsässig. »Dürfen Sie das so einfach, mich verhören? Ohne meinen Rechtsanwalt?«
»Sie haben einen Rechtsanwalt?«, fragte Lüppo Buss zuckersüß. »Wie ist denn wohl sein Name und wo ist seine Kanzlei?«
Schubert zog einen Schmollmund. »Nee, hab ich nicht«, murmelte er.
Dabei hatte er mit seiner Frage vollkommen recht, dachte Stahnke. Für eine Befragung wie diese gab es Regeln! Sie hatte in einem geeigneten Raum der nächstgelegenen Dienststelle stattzufinden, und natürlich war dem Verlangen nach einem Rechtsbeistand umgehend nachzukommen. Das und vieles mehr war einzuhalten, oder die gewonnenen Erkenntnisse konnten in einem eventuellen Gerichtsverfahren nicht verwendet werden. Ganz egal, ob sich dieser Maik Schubert als Zeuge erwies oder als Beklagter.
Was sich hier abspielte, war aber alles andere als der Regelfall. Statt in einer Amtsstube saßen sie zu dritt in einem abgeranzten Wohnmobil, und draußen flickten gerade ein Notarzt und drei Sanitäter zwei Verletzte zusammen, die von Polizeibeamten Prügel bezogen hatten. Von Polizisten, die davon nichts in ihren Berichten erwähnen würden. Und die hofften, damit durchzukommen, weil sie die Betroffenen und deren vier Kumpels unter Druck gesetzt hatten. Mein lieber Mann, dachte Stahnke, wir sind auf ganz dünnem Eis unterwegs.
Ausgeschlossen, jetzt umzukehren.
Der Hauptkommissar deutete auf sein Mobiltelefon. »Aufnahme läuft«, sagte er. »Das – oder doch noch die 110.«
Schubert seufzte. »Okay«, sagte er gedehnt und genervt. »Was wollen Sie wissen?«
»Diese Gruppe hier, Sie und Ihre Kumpels da draußen – was ist das für ein Verein?«, fragte Stahnke.
»Wir sind ein Fußballguckklub«, erwiderte Schubert.
Stahnke blieb ruhig. Der will mich doch auf den Arm nehmen, dachte er. Er schaute auf Lüppo Buss; der dachte offenbar dasselbe, keine Frage, und seine Miene blieb ebenfalls stoisch.
Maik Schubert seufzte; es klang enttäuscht, wohl wegen der überschaubaren Wirkung seiner Worte. »Wir treffen uns immer zum Fußball gucken«, erläuterte er. »Champions League, Länderspiele oder Bundesliga, je nachdem, was es gibt. Wir haben ja alle Sky.«
»Und das nennen Sie einen Klub?«, fragte Lüppo Buss.
»Na ja, nur so, zum Spaß. Immer da, wo wir gerade Fußball gucken, schmücken wir den Vorgarten mit Rum- und Colaflaschen. Und Whiskey. Und natürlich Wodka.«
»Natürlich.« Der Inselpolizist nickte so verständnisvoll, als wüsste er keinen besseren Platz für Leergut als einen Vorgarten.
Schubert zuckte mit den Schultern. »Wir arbeiten alle bei VW in Emden, am Band, in derselben Schicht. Und wir treffen uns regelmäßig im Fitnessstudio. Da brauchen wir einen Ausgleich.«
»Einen Ausgleich. Klar.« Stahnke nickte. Zum Ausgleich könntet ihr auch mal ein gutes Buch lesen, dachte er. Er schaute Maik Schubert ins Gesicht; schon bezweifelte er seinen eigenen Gedanken.
»Und das?« Seine Handbewegung schloss das Wohnmobil und den benachbarten Campingwagen ein. »Ist das auch Teil dieses Ausgleichs?«
Читать дальше