1 ...6 7 8 10 11 12 ...29 Für Kant hat die Französische Revolution einen elementaren Charakter, man kann fast sagen, sie ist für ihn ein Naturereignis und nicht etwas, das sich Individuen ausgedacht haben. Damit ist sie von den Vorstellungen der Konterrevolutionäre weit entfernt, die mutmaßen, es zögen bei Revolutionen nicht anders als bei einem Putsch schlicht einige Leute irgendwie die Fäden. Sie sind überzeugt, dass Revolutionen grundsätzlich dieselbe Struktur wie konterrevolutionäre Gewalt aufweisen und zu unterdrücken seien mit Manipulationen, Bestechungen, brutaler Gewalt, Bespitzelungen etc. Entsprechend, glauben sie, verlaufe auch der revolutionäre Prozess auf derselben Ebene manipulierter Gewalt. Eine solche Form der Revolution kann es bei Kant jedoch nicht geben: Revolution ist bei ihm ein elementares geschichtliches Ereignis, einbezogen in eine Vielzahl von materiellen und geistigen Konstellationen und nicht auf die Absicht Einzelner oder bestimmter Gruppen zurückzuführen. Revolution ist bei Kant ein Entwicklungsprozess, weshalb er sagt, die Revolution des geistreichen französischen Volkes sei die Evolution einer naturrechtlichen Verfassung, eine Entwicklung, ein Prozess, der bestimmte geschichtliche Knotenpunkte habe, in denen Konstellationen zusammentreffen. Planungsabsicht komme bei diesem Prozess nur insofern zum Ausdruck, als er eventuell einem Plan der Natur folgt.
Diese Vorstellung von Revolution ist nicht ganz neu, worauf auch Karl Griewank hinweist. 34Auch er hat den neuzeitlichen Revolutionsbegriff als einen naturwüchsig durchsetzten interpretiert, bei dem nicht mehr die Vorstellung eines irgendwie planvollen Unternehmens vorherrscht, sondern sich eine Gesamtkonstellation der Kräfte ergibt. Der einzige Revolutionsbegriff im strengen Sinne ist demnach der neuzeitliche. Denn die Verwendung des Begriffs ›Revolution‹ tritt keineswegs erst mit dem rationalen Naturrecht auf, wovon zum Beispiel Kopernikus Hauptschrift »De revolutionibus orbium coelestium« (1543) zeugt. Bei ihm geht es um einen ganz anderen Zusammenhang, um die geordnete Bewegung der Gestirne und damit um etwas, das sich in einem berechenbaren und prognostizierbaren Zusammenhang bewegt. Gleichwohl ist in diesem Revolutionsbegriff ein Moment von Objektivität enthalten. Es geht nicht um eine willkürliche Anordnung gesellschaftlicher Objekte, sondern um einen Prozess, für dessen Zustandekommen alle Bestandteile wesentlich sind.
Was Kopernikus innerhalb der Astronomie bezeichnet, findet vielfache Übertragungen und Transpositionen in den gesellschaftlichen Begriff von Revolution, wie er sich dann in den rationalen Naturrechtslehren beginnend mit Puffendorf, Grotius, Locke und Hobbes abspielt. Auch bei ihnen ist Revolution ein Ereignis, eine bestimmte Konstellation von Ereignissen, wobei sie Revolution noch als die Wiederherstellung einer Ordnung begriffen, die zuvor gestört oder zerstört war. John Locke (1632–1704) liefert dafür ein besonders gutes Beispiel, doch die ersten bürgerlichen rationalen Naturrechtslehren gingen alle darauf hinaus, eine gestörte Ordnung wiederherzustellen. Entsprechend begründeten sie Revolution auch als die Wiederherstellung einer alten Satzung und alter Gesetze, so etwa in den Debatten über den Abfall der Niederlande von der spanischen Krone. Zerstörungsprozesse, die im späten Mittelalter eingesetzt haben, etwa Enteignungsprozesse, sehen sie als die gesellschaftliche Grundlage an, von der aus altes Recht wiederherzustellen sei. Damit will diese Form des rationalen Naturrechts paradoxerweise vornaturrechtliche Zustände herstellen. Darin ist ein Moment des Konservativismus miteinbezogen.
Kants Revolutionsbegriff hingegen bezieht sich nicht auf die Wiederherstellung einer wie auch immer gearteten gestörten Ordnung, sondern auf die Etablierung eines Systems von Vertragsrechten. Grundlage dafür ist der Gesellschaftsvertrag, den die Menschen ursprünglich geschlossen haben, nicht als ein historisches Faktum, sondern als ein mit ihrer Vernunft verbundenes Postulat. Das heißt, die Vertragslehren werden von Kant nicht zurückbezogen auf irgendwelche Verträge, die empirisch geschlossen wurden, sondern es gehört zum Gemeinwesen und zur republikanischen Verfassung dazu, dass hier ein ursprünglicher Gesellschaftsvertrag geschlossen wurde. Damit ist das Naturrecht ein Vertragsnaturrecht, ein rationales Naturrecht, das die Unabhängigkeit der einzelnen Rechtspersonen unterstellt.
Gehen wir noch etwas weiter in dieser Bestimmung des elementaren objektiven oder naturwüchsigen Charakters. Sie kennen vielleicht jenen Ausspruch, der Marie Antoinette zugeschrieben wird, historisch nicht verbürgt, aber sachlich völlig zutreffend, als sie vor dem Fenster steht und sich mit den abgehalfterten Ministern unterhält. Was sich vor ihren Augen auf der Straße abspielt, ist keine vorübergehende Revolte, sondern eine elementare Revolution, ein Ereignis, gegen das man nichts machen kann. In allen Bestimmungen Kants ist etwas von dieser Unabänderlichkeit enthalten: Man mag dagegen sein und moralisch urteilen, ein wohldenkender Mensch mag sich auch vor einer Wiederholung fürchten, doch diese Sache ist fortan der Erinnerung der Menschheit eingeschrieben und verliert sich genauso wenig wieder aus ihrem Bewusstsein wie eine Naturkatastrophe, es sei denn durch Verdrängung.
Die Staatsweisheit wird sich also in dem Zustande, worin die Dinge jetzt sind Reformen dem Ideal des öffentlichen Rechts angemessen zur Pflicht machen; Revolutionen aber, wo sie die Natur von selbst herbei führt, nicht zur Beschönigung einer noch größeren Unterdrückung, sondern als Ruf der Natur benutzen, eine auf Freiheitsprinzipien gegründete gesetzliche Verfassung, als die einzige dauerhafte, durch gründliche Reform zu Stande zu bringen. 35
Mit anderen Worten bedeutet das: Wo Revolution stattfindet, kann man nichts machen, weil sie ein »Ruf der Natur ist«. Aber wohldenkende Staatsmänner, die gesehen haben, wie elementar sie sich Bahn bricht, um Vernunft durchzusetzen, werden sich sehr wohl überlegen, ob sie diesen Prozess nicht kompensieren, ausgleichen, ihm gar vorgreifen können, indem sie dasselbe auf dem Wege von Reformen durchsetzen. Wenn sich die Natur auch in Gestalt von revolutionären Bewegungen gegen den Willen der Beteiligten durchsetzt, kann das nur eine Aufforderung dazu sein, sich im aufklärerischen Sinne seines Verstandes zu bedienen, sodass jene Vernunft, die elementar und blutig in der Französischen Revolution durchgesetzt wurde, sich friedlich und mithilfe staatsmännischer Weisheit etabliert. Auf jeden Fall liegt darin für Kant eine Warnung an die europäischen Staatsmänner, sich nicht darauf zu verlassen, dass die Französische Revolution von Jakobinern und einigen Gruppen der französischen Gesellschaft inszeniert worden sei, sondern sie als einen Aufbruch der Natur, ein Zeichensetzen der Natur zu betrachten. Wenn sich Gesellschaften nicht auch in anderen Ländern revolutionär verändern sollen, müssen sie sich durch Reformen verändern. Entsprechend hätte – wie Hegel – auch Kant die Napoleonischen Kriege, wenn er sie noch erlebt hätte, im Sinne der Realisierung dieses Naturzwecks begreifen können, weil sie zerstörte und innerlich ausgehöhlte Systeme mit Gewalt weggefegt und den revolutionären Gedanken auch über die europäischen Fürstentümer gebracht haben. Aber welche Natur bricht sich hier Bahn, um etwas durchzusetzen, was sie selbst nicht ist?
In der Revolution produziert Natur ihr eigenes Gegenteil, sie produziert eine Verfassung, die Natur beherrscht. Zwei Gesichtspunkte zu diesem Naturbegriff sind dabei wesentlich. So ist der friedliche Zustand der Gesellschaft bei Kant ein unnatürlicher, der mit der Natur des Menschen nichts zu tun hat. Ein friedlicher Gesellschaftszustand muss vielmehr gestiftet werden. Das bedeutet für Kant gleichzeitig, dass die Hobbes’sche Konstruktion eines kriegerischen Zustands zutrifft, des Kampfes aller gegen alle. Er sagt an einer Stelle: »Der Krieg aber selber bedarf keines besonderen Beweisgrundes, sondern scheint auf die menschliche Natur gepfropft zu sein.« 36Der Krieg als Ausdruck natürlicher Kräfte und Bewegungen sitzt der menschlichen Natur auf, jenes Naturerbteils, der ihn auch mit der Natur in der »Kritik der reinen Vernunft« verbindet, nämlich dem Dasein unter Gesetzmäßigkeiten. Mit diesem Erbteil hängt der einzelne Mensch an der Gattungsentwicklung, ist er Natur im Sinne des Nicht-Domestizierten. Es gibt zuweilen in Anlehnung an Friedrich II., den man auch den Großen genannt hat, geradezu eine Geringschätzung Kants gegenüber den Menschen. Friedrich II. hat einmal von dieser verdorbenen und verkommenen Rasse gesprochen, die man domestizieren müsse, damit aus ihr etwas werden könne. Kant ist nicht nur auf dieser Ebene, sondern auch auf jener der theologischen Betrachtung von der Bösartigkeit der menschlichen Natur überzeugt. Aber gleichzeitig schließt sich diese Bösartigkeit mit dem Vernunftvermögen zusammen: Bei ihm hat, wie bei keinem Denker sonst, der Mensch die Möglichkeit, sich nicht nur von dieser Bösartigkeit, sondern gleichzeitig von der Natur selbst zu lösen. Die Vernunft ist das radikal Andere der Natur. Wie Herder gesagt hat, die Sprache und der aufrechte Gang seien die eigentlichen Elemente der menschlichen Natur, sagt nun Kant, was Instinktsteuerung gewesen ist, muss Vernunft werden. Erst dann sei Emanzipation möglich.
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