1 ...8 9 10 12 13 14 ...29 Ich darf Ihnen eine Stelle aus dem Fragment »Zum ewigen Frieden« vortragen. 41Im dritten Definitivartikel steht dort: »Das Weltbürgerrecht soll auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein.« Hospitalität bedeutet nicht einfach Gastrecht, sondern Gastrecht in dem Sinne, dass niemand aus dem Hause der Erde oder der Natur vertrieben werden darf. Es ist hier wie in den vorigen Artikeln nicht von Philanthropie, sondern vom Recht die Rede, »und da bedeutet Hospitalität (Wirtbarkeit) das Recht eines Fremdlings, seiner Ankunft auf dem Boden eines andern wegen, von diesem nicht feindselig behandelt zu werden. Dieser kann ihn abweisen, wenn es ohne seinen Untergang geschehen kann«. Er hat ein Recht, ihn von dem Boden zu vertreiben, wenn es »ohne seinen Untergang«, ohne seine physische Schädigung geschehen kann. Darin, das folgt in der Rechtstheorie, ist die Auslieferung an andere Länder miteinbezogen:
Dieser kann ihn abweisen, wenn es ohne seinen Untergang geschehen kann; so lange er aber auf seinem Platz sich friedlich verhält, ihm nicht feindlich begegnen. Es ist kein Gastrecht, worauf dieser Anspruch machen kann (wozu ein besonderer wohltätiger Vertrag erfordert werden würde, ihn auf eine gewisse Zeit zum Hausgenossen zu machen), sondern ein Besuchsrecht, welches allen Menschen zusteht, sich zur Gesellschaft anzubieten, vermöge des Rechts des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde. 42
Jeder Mensch hat ein Naturrecht, sein Gesellschaftsbedürfnis, seine Gesellschaftlichkeit, das heißt eigene Kräfte dem anderen zur Kommunikation und zur Beteiligung an der Entwicklung anzubieten. Darauf hat er ein Recht, und er darf deshalb nicht vertrieben werden, weil es einen gemeinschaftlichen ursprünglichen Rechtsbesitz der Erdoberfläche gibt, »auf der, als Kugelfläche, [die Menschen] sich nicht ins Unendliche zerstreuen können, sondern endlich sich doch neben einander dulden [zu] müssen, ursprünglich aber niemand an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht hat, als der andere.« 43
Hier kommt Kant auf die Frage zu sprechen, und darin steckt ein Stück Imperialismus, wie sich Kommunikation mit abgelegenen Teilen der Erde ergebe. Ihm nach, kann man andere Völker durchaus überfallen, wenn diese sich der Gesellschaftlichkeit verschließen, nicht mit anderen kommunizieren wollen. Das sei letztlich in ihrem Interesse, weil sie sich nur so zur weltbürgerlichen Gesellschaft öffnen und damit ihre von der Natur angelegten Vernunftfähigkeiten entfalten würden. Kant geht sogar so weit, dass derjenige, der sich weigere diese Naturanlagen zu entfalten, in gewisser Weise dazu gezwungen werden könne.
Die Kugeloberfläche der Erde zwingt die Menschen folglich dazu, sich zu tolerieren und miteinander auszukommen. Das ist eine transzendentale Bedingung dafür, dass Recht nicht nur notwendig, sondern auch möglich ist. Man kann es auch so ausdrücken: Es ist, da niemand ewig ausweichen kann, von der empirischen Seite und nicht nur vonseiten der Vernunft notwendig. Heute, im Zeitalter der Ausweichmöglichkeiten ins Weltall, wäre dieses Modell auf das Sonnensystem zu erweitern.
Einen weiteren Punkt, den Kant hier aufgreift, möchte ich noch erwähnen, weil er auf das Naturrecht zurückgeht. Sie wissen vielleicht, dass für die Entwicklung des Naturrechts etwa bei Hugo Grotius (1583–1645) die Frage nach dem Gemeinbesitz der Meere zentral war. 44Es ist nicht zufällig, dass diese Theorie in Holland entwickelt worden ist, das ein fundamentales Interesse an der Offenheit der Meere hatte. Ein Stück von ihr steckt auch in diesem Hospitalitätsrecht bei Kant und der Verfügung über Meere und Länder. Kant selbst deutet das an:
Unbewohnbare Teile dieser Oberfläche, das Meer und die Sandwüsten, trennen diese Gemeinschaft, doch so, daß das Schiff, oder das Kamel (das Schiff der Wüste) es möglich machen, über diese herrenlose Gegenden sich einander zu nähern, und das Recht der Oberfläche, welches der Menschengattung gemeinschaftlich zukommt, zu einem möglichen Verkehr zu benutzen. Die Unwirtbarkeit der Seeküsten (z. B. der Barbaresken), Schiffe in nahen Meeren zu rauben, oder gestrandete Schiffsleute zu Sklaven zu machen, oder die der Sandwüsten (der arabischen Beduinen), die Annäherung zu den nomadischen Stämmen als ein Recht anzusehen, sie zu plündern, ist also dem Naturrecht zuwider, welches Hospitalitätsrecht aber, d. i. die Befugnis der fremden Ankömmlinge, sich nicht weiter erstreckt, als auf die Bedingungen der Möglichkeit, einen Verkehr mit den alten Einwohnern zu versuchen. 45
Jemanden zu überfallen, ist also dem Naturrecht zuwider, nicht aber etwas anzubieten, also der Warentausch. Der Versuch des Tauschverkehrs ist gerechtfertigt unter der Voraussatzung, dass er nicht gewalttätig erfolgt. Auf diese Art können entfernte Weltteile miteinander friedlich in Verhältnisse kommen, die zuletzt öffentlich gesetzlich werden, was das menschliche Geschlecht endlich einer weltbürgerlichen Verfassung immer näher bringt.
Vergleicht man hiermit das inhospitale Betragen der gesitteten, vornehmlich handeltreibenden Staaten unseres Weltteils, so geht die Ungerechtigkeit, die sie in dem Besuche fremder Länder und Völker (welches ihnen mit dem Erobern derselben für einerlei gilt) beweisen, bis zum Erschrecken weit. Amerika, die Negerländer, die Gewürzinseln, das Kap etc. waren, bei ihrer Entdeckung, für sie Länder, die keinem angehörten; denn die Einwohner rechneten sie für nichts. In Ostindien (Hindustan) brachten sie, unter dem Vorwande bloß beabsichtigter Handelsniederlagen, fremde Kriegesvölker hinein, mit ihnen aber Unterdrückung der Eingebornen, Aufwiegelung der verschiedenen Staaten desselben zu weit ausgebreiteten Kriegen, Hungersnot, Aufruhr, Treulosigkeit, und wie die Litanei aller Übel, die das menschliche Geschlecht drücken, weiter lauten mag. 46
Die Kommunikation des gesellschaftlichen Weltverkehrs ist bei Kant sehr weit entwickelt und auch mit der nötigen materiellen Prächtigkeit der Kommunikation, nämlich des Warenhandels, begründet, wobei dieser Warenhandel ein materielles Element der Notwendigkeit dieser Kommunikationen darstellt. Ich möchte nicht diese aus der Natur kommenden Probleme auf die bürgerliche Gesellschaft übertragen, sondern zeigen, dass sich die Interpretation von Kant durchgehend durch eine sehr präzise Deutung des Systems von Interessen in der bürgerlichen Gesellschaft auszeichnet und einerseits einen Kommunikationszusammenhang begründet sowie andererseits die Notwendigkeit der Entfaltung von Naturanlagen. Dazu ziehe ich am besten die »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« heran. Diese Schrift unternimmt nicht den Versuch, ein Geschichtszeichen für die Evolution einer naturrechtlichen Verfassung zu finden, um die Behauptung des Rechts zu institutionalisieren, sondern will ein Leitfaden für die geschichtliche Entwicklung sein.
Wer von Leitfaden spricht, macht gleichzeitig klar, dass es nicht um einen konstitutiven Zusammenhang geht. Kant behauptet also nicht, dass die Dinge tatsächlich so laufen, aber er liefert uns einen »Leitfaden« 47, an dem wir mögliche Absichten der Natur in diesem Prozess verstehen können. Dabei greift er schlicht auf statistische Annahmen zurück, also auf Annahmen, die mit Durchschnittswerten arbeiten. Wie Geburten oder Todesfälle in einem bestimmten Land zu mitteln sind, arbeitet auch er mit Durchschnittswerten von Handlungen und möglichen Absichten, um festzustellen, ob nicht doch im »trostlose[n] Ungefähr« 48etwas wie eine Ordnung stecke.
Die Menschen wollen zwar alle etwas ganz Verschiedenes; jeder hat seine Vorstellung von Glück und seine Vorstellung von Interessen. Und doch kommt, wie Kant bemerkt, dabei etwas heraus, das grundverschieden ist von dem, was jeder Einzelne gewollt hat, und das eine bestimmte Entwicklungslinie zeigt. Auf dieser Entwicklungslinie, die gewissermaßen einen Durchschnittswert darstellt, wird merkwürdigerweise Vernunft erkennbar. Daran gemessen verhalten sich die Einzelnen vernunftlos. Auch im Krieg laufe alles vernunftlos ab, was aber dabei herauskommt, könnte für Kant etwas Vernünftiges sein, dass nämlich die Völker begreifen, dass sie keine Kriege mehr führen dürfen:
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