1 ...7 8 9 11 12 13 ...29 Außer Frage steht, dass der Krieg zum Grundbestandteil der gesamten Gattungsentwicklung gehört. Aber dieser Krieg ist nicht als Naturzweck, sondern nur als Mittel zu denken, um Zwecke durchzusetzen, die mit diesen Mitteln nichts zu tun haben. Mit anderen Worten ist für Kant der Krieg derjenige materielle Zusammenhang, der nicht nur die Menschen zur Vernunft treibt, sondern auch Verkehrsformen und Verkehrsverhältnisse herstellt, Berührungen zwischen den Völkern, wo Grenzen durchbrochen werden. Der Krieg ist auch in seinen ganz fatalen, von Kant verhassten Formen ein Stück Vorbereitung auf den weltbürgerlichen Zustand. Alles Übel kommt von diesem Krieg, doch Kant ist weit genug Bürger, um darauf zu bestehen, dass der Krieg nicht nur zerstörerisch wirke. Vielmehr ist dahinter ein versteckter Plan der Vorsehung zu vermuten, der die Menschen selbst gegen ihren Willen und sogar gegenüber ihren guten Absichten dazu zwingt, eine naturrechtliche Verfassung in die Realität umzusetzen. Unter diesem Gesichtspunkt kommt in der Schrift »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« (1784) einiges zum Tragen, das eindeutig von Adam Smith (1723–1790) stammt. Kant sagt, diese Auseinandersetzung, dieser Antagonismus der gesellschaftlichen Kräfte, die gesellige Ungeselligkeit oder die ungesellige Geselligkeit, treibe darauf hin, wenn es nicht ein sinnloses Spiel sein soll, dass die Menschen sich einigen müssen im Sinne der Erhaltung ihrer Gattung. Im Übrigen hat Kant das Aussterben der ganzen Gattung nie ausgeschlossen. Hegel hat das nicht für möglich gehalten, weil sonst der absolute Geist selbst ausgestorben wäre, aber für Kant war diese Perspektive einer tellurischen Katastrophe, einer Weltkatastrophe in der Menschengeschichte durchaus denkbar.
Kant geht, wie erwähnt, davon aus, dass der Mensch bösartig ist, andere verletzt, sich nicht an Regeln hält und so weiter. Daraus ist aber nicht abzuleiten, dass Kant es angesichts der Schöpfung und der Realität als unerheblich ansieht, ob die Menschen zur Vernunft kommen oder nicht. Er argumentiert vielmehr, und darauf hat sich auch Bloch immer wieder bezogen, 37gemessen am Weltall sei der Mensch in seiner ganzen geschichtlichen Entwicklung zwar eine Kleinigkeit. Ihn wegen dieser mediokren Stellung im Naturzusammenhang unverändert zu lassen, sei aber mit Blick auf sein Potenzial eine Verkehrung der Schöpfung.
Es ist also ein nicht bloß gutgemeinter und in praktischer Absicht empfehlungswürdiger, sondern allen Ungläubigen zum Trotz auch für die strengste Theorie haltbarer Satz: daß das menschliche Geschlecht im Fortschreiten zum Besseren immer gewesen sei, und so fernerhin fortgehen werde, welches, wenn man nicht bloß auf das sieht, was in irgend einem Volk geschehen kann, sondern auch auf die Verbreitung über alle Völker der Erde, die nach und nach daran Teil nehmen dürften, die Aussicht in eine unabsehliche Zeit eröffnet; wofern nicht etwa auf die erste Epoche einer Naturrevolution, die (nach Camper und Blumenbach) bloß das Tier und Pflanzenreich, ehe noch Menschen waren, vergrub, noch eine zweite folgt, welche auch dem Menschengeschlechte eben so mitspielt, um andere Geschöpfe auf diese Bühne treten zu lassen, u.s.w. Denn für die Allgewalt der Natur, oder vielmehr ihrer uns unerreichbaren obersten Ursache, ist der Mensch wiederum nur eine Kleinigkeit. Daß ihn aber auch die Herrscher von seiner eigenen Gattung dafür nehmen, und als eine solche behandeln, indem sie ihn teils tierisch, als bloßes Werkzeug ihrer Absichten, belasten, teils in ihren Streitigkeiten gegen einander aufstellen, um sie schlachten zu lassen, – das ist keine Kleinigkeit, sondern Umkehrung des Endzwecks der Schöpfung selbst. 38
Es gibt also ein kontingentes Moment in der Gesamtentwicklung, und deshalb ist Kant in vielen Punkten ein Materialist. Diese Materie ist für ihn offen, nicht geschlossen, die Katastrophe ist möglich. Die Naturrevolution im Sinne einer Gesamtmutation, die anderen Wesen den Weg öffnet, ist nicht ausgeschlossen. Aber wenn man jetzt wie Jacques Monod, der französische Nobelpreisträger, der ein sehr witziges Buch über »Zufall und Notwendigkeit« geschrieben hat, 39den Menschen als ein kleines Plasmateilchen im Weltall lokalisiert, das eigentlich gar nicht viel ausrichten kann, dann ist das jedenfalls für Kant die Umkehrung des Endzwecks der Schöpfung, keine Kleinigkeit, sondern eine Verkehrung des Ganzen. Zu schlussfolgern, man könne den Mensch als Kleinigkeit behandeln, ist demnach ein Versuch, aus der Möglichkeit einer Naturrevolution Herrschaft abzuleiten, und gegen diesen Versuch, Herrschaft zu legitimieren, wendet sich Kant entsprechend deutlich.
Ich möchte hier kurz in wenigen Sätzen einschieben, warum Kant überhaupt auf diese Naturvoraussetzungen bei geschichtlichen Prozessen reflektiert. Dafür will ich den Begriff ›transzendental‹ einführen, den ich bisher nicht erläutert habe, der aber charakteristisch ist für die Kantische Philosophie. Transzendental bedeutet die Feststellung all jener Bedingungen des Denkens und Handelns, ohne die Denken und Handeln nicht möglich sind. Das heißt, transzendental bedeutet immer Reflexion auf etwas und seine Bedingungen. Unter welchen Bedingungen ist also Natur möglich? Kant sagt schlicht, unter der Bedingung, dass es ein apriorisches Gesetz in der Vernunft gibt, das Naturzusammenhang stiftet: Kausalität. Nur deshalb ist Natur möglich. Unter welchen Bedingungen sind ästhetische Gebilde möglich? Unter der Bedingung, dass ein Genie Gesetze für interesseloses Wohlgefallen erlässt. In Bezug auf eine weltbürgerliche oder republikanische Verfassung fragt Kant nun nicht, ob diese notwendig sei. Diese Frage ist für ihn ausgestanden. Sie ist notwendig aufgrund von Vernunft. Aber wie ist sie möglich? Unter welchen Bedingungen lässt sich eine weltbürgerliche Verfassung durchsetzen? Unter welchen Bedingungen kann sie Realität werden? Deshalb tastet er alles in einem gewissermaßen empirischen Verfahren ab: Er fragt nicht, wie sollte der Mensch sein, sondern wie ist er erfahrungsgemäß. Um nun festzustellen, dass die Menschen bösartig sind, braucht man keine große Analyse, ja man braucht dafür noch nicht einmal Erfahrung, sondern das ist etwas Apriorisches.
Diese Reflexion auf die Bedingungen für die Möglichkeit ist durchgängig bei Kant festzustellen, auch in den geschichtsphilosophischen Schriften. Deshalb fragt er sich: Welche Naturbedingungen machen die friedliche Verfassung der Menschheit subjektiv-transzendental notwendig und objektiv-empirisch möglich, selbst wenn sie noch nicht realisiert ist. Eine solche Möglichkeit ist der Krieg, die Tatsache, dass sich Völker und Menschen bekämpfen und mit der Nase darauf gestoßen werden, dass es so nicht weitergehen könne. Wenn sie anfangen, Leute zur Schlachtbank zu führen, wenn Fürsten ihre Untertanen verkaufen, um bestimmte Ziele durchzusetzen, dann widerspricht das dem Vernunftgesetz des Schöpfungszwecks: Es kann nicht Sinn der Schöpfung sein, dass Menschen sich töten, und zwar deshalb nicht, weil der Mensch Anlagen der Natur hat, die ihn darüber hinausführen. Daher rührt die Reflexion auf die Naturanlage, sich moralisch zu verhalten, das heißt nach allgemeinen Prinzipien und Maximen. Eine solche Anlage kann die Natur nicht sinnlos produziert haben – davon geht Kant, gehen wir als vernunftbegabte Menschen aus, auch wenn es sich nicht beweisen lässt.
Lassen wir es zunächst einmal dabei bewenden, denn ein weiterer Punkt ist in diesem Zusammenhang sehr wichtig. Kant stellt sich die Frage: Warum müssen die Menschen eigentlich friedlich miteinander leben? Warum werden sie mit der Nase darauf gestoßen, dass eine republikanische, also friedliche Verfassung, denn mehr besagt dieser Begriff zunächst nicht, möglich ist? Kant begründet diese Tatsache merkwürdigerweise aus der Kugelform der Erde. Er sagt: Die Menschen können es nicht verhindern, prinzipiell aufeinanderzustoßen, weil sie sich nicht ausweichen können. Menschen und Völker sind prinzipiell nicht imstande, sich irgendwo friedlich niederzulassen, ohne auf andere zu stoßen. Damit begründet die Kugelform der Erde tatsächlich etwas wie die Notwendigkeit des Rechts. Für Kant hat Recht mit Moral nichts zu tun. Diese Trennung von Recht und Moral ist bei Kant zentral und exakt formuliert. Eine rechtliche Verfassung der Menschen muss demnach auch in einer Gesellschaft von Teufeln möglich sein, wenn sie nur Vernunft haben. Dann spielt ihre Moralität keine Rolle. Sie können absolut böse und bösartig handeln, sie müssen nur Vernunft haben. 40Das ist keine Deduktion, sondern eine transzendentale Ableitung, eine Feststellung der Bedingung der Möglichkeit. Kant leitet aus der Kugelform der Erde das allgemeine Hospitalitätsrecht ab, das heißt, das Gastrecht. Mit einem Wort: Jeder Mensch hat ein Naturrecht auf einen Platz auf dieser Erde, und niemand hat von Natur aus das Recht, ihn davon zu vertreiben. Nun bedeutet das nicht, dass er Recht hat auf den Platz, den er bewohnt, sondern er hat ein Anrecht auf einen Platz überhaupt. Das heißt, wer sich in friedlicher Absicht irgendwo auf dieser Erde niederlässt, kann mit naturrechtlicher Begründung nicht von dort vertrieben werden. Die Erde, das ist die erste Rechtskategorie, ist Gemeinbesitz der Menschen, und aller Privatbesitz ist Besonderung und muss aus dem Allgemeinbesitz begründet werden. Die Erde ist der erste Gemeinbesitz aller Menschen.
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