Ich möchte noch einmal die widersprüchlichen Gesichtspunkte kurz zusammenfassen, die sich in dieser Konzeption von Revolution ausdrücken. Kant ist aus systematischen Gründen nicht imstande, einen geschichtlichen Beweis aus der Erfahrung dafür zu gewinnen, dass das Menschengeschlecht im Fortschritt begriffen ist, denn alles empirische Wissen bedarf ja der Vernunftprinzipien und der allgemeinen Grundsätze des transzendentalen Verstandes, um Allgemeines werden zu können. Gleichwohl ist für Kant ein Abderitismus unmöglich, dieses Schwanken der moralischen Grundlage auf ein und derselben Ebene, wäre die moralische Grundlage dann doch eine rein anthropologische Angelegenheit, die sich dem Potenzial nach nicht verändert. Seine »Kritik der praktischen Vernunft« und die »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« waren noch rein auf dieser Grundlage konstruiert, dass die moralische Anlage heute genauso wie vor tausend und zehntausend Jahren gleichgeblieben sei, dass sich gar keine Veränderung vollziehe. Diese Konstanz der moralischen Anlage kann Kant jedoch in einer Zeit, da Umbrüche größten Ausmaßes erfolgen, nicht mehr aufrechterhalten. Inzwischen beginnt eine Erosion des allgemeinen preußischen Landrechts, auch die neuen Rechtskodifikationen beginnen, erste Kritik an den Offenbarungsreligionen wird laut und so weiter. Es werden dogmatische Systeme gestürzt, und nicht nur das: Es werden ganze Staaten durch Revolutionsheere umgekrempelt, die auch nach außen dringen. In diesem Umwälzungsprozess muss Kant zwar die Vorstellung der Unveränderlichkeit aufgeben, allerdings ist er nur imstande, einen vermittelten Hinweis darauf zu geben, wenn man so will, theologisch zu deuten, was sich vollzieht. Es ist ein Fitzel empirischer Realität, ein Teilchen, ein Fanal, ein Hinweis, an dem er zeigen kann, dass doch etwas wie eine Besserung der Menschheit im Moralischen stattfindet. Aber es ist für ihn in dieser Periode nur möglich, das nachzuvollziehen, was sich auch geschichtlich ereignet hat. Die empirische Revolution, die in Frankreich ein wirkliches Ereignis war, wird in Deutschland zu einem virtuellen Ereignis, zu einem Bildungserlebnis. Was später Hegel in der »Phänomenologie des Geistes« sagt, der Geist aus der Unruhe der französischen Gesellschaft gehe im Bereich der Bildung in die deutsche über, 30das ist bei Kant genau und viel widersprüchlicher ohne irgendwelche Vermittlungsebenen ausgedrückt.
Diese Konstruktion von empirischen und nicht-empirischen, subjektiven und objektiven Elementen hat natürlich für Kant auch eine Absicherungsfunktion. Alle Philosophen sind sehr kluge Leute gewesen, was die Einschätzung ihrer Machtsituation anbetraf. Meistens haben sie schon Jahre vorausgesehen, was auf sie zukam, und ihre Schriften vorzeitig mit Loyalitätserklärungen versehen. Das gilt auch für Kant, der ein besonders geschickter Taktiker gewesen ist. Die anfechtbarsten Schriften hat er dem königlichen Hause gewidmet, was ihm nicht immer geholfen, aber immerhin zu einem Stillhalteabkommen geführt hat. Kant sagt jetzt: Wenn es revolutionäre Denkungsart gibt, die eine Besserung der moralischen Anlage bezeugt, warum sollte sie sich nicht verbreiten und nicht auch andernorts einen ähnlich massenhaften Charakter annehmen können wie in Frankreich? Doch Kant sieht auch die ungeheuren Gefahren, die darin bestehen, dieses Ereignis der Französischen Revolution in Deutschland oder Königsberg zu feiern, deshalb unterstreicht er, es gehe gar nicht darum, dass die Völker ihre Souveräne beseitigen, sondern es führe im Gegenteil zu einer besonderen Loyalität. Kant sagt:
[…] daß diejenige Verfassung eines Volks allein an sich rechtlich und moralisch-gut sei, welche ihrer Natur nach so beschaffen ist, den Angriffskrieg nach Grundsätzen zu meiden, welche keine andere als die republikanische Verfassung, wenigstens der Idee nach, sein kann, mithin in die Bedingung einzutreten, wodurch der Krieg (der Quell aller Übel und Verderbnis der Sitten) abgehalten, und so dem Menschengeschlechte, bei aller seiner Gebrechlichkeit der Fortschritt zum Besseren negativ gesichert wird, im Fortschreiten wenigstens nicht gestört zu werden. 31
Es folgt jener bereits zitierte Passus, in dem Kant erklärt, dass das »Murren der Untertanen« vor allem dann laut werde, wenn die Regierung »Auswärtige […] am Republikanisieren« hindere, worin sich nur des Volkes Liebe zur eigenen Verfassung artikuliere. 32Und je mehr sich andere Völker »republikanisieren«, desto sicherer könne sich das Volk fühlen. Damit sagt Kant im Grunde nichts anderes, als dass alle Völker republikanisch werden sollen außer Preußen. Dann nämlich könne man sich, weil es keinen Angriffskrieg mehr gebe, auch in Preußen sicher fühlen. Diese Ambivalenz des Volkes – ich werde da noch im Einzelnen darauf zusprechen kommen, was darunter zu verstehen ist – beinhaltet ganz Verschiedenes, aber nicht, was bei Hegel anklingt, den Pöbel. Das Volk ist hier ein Souverän der Idee oder den Grundsätzen, nicht aber den Handlungen nach. Um sich selbst zu salvieren, fügt Kant an, »verleumderische Sykophanten« hätten versucht, das Murren »für Neuerungssucht, Jakobinerei und Rottierung […] auszugeben«, wofür es aber, zumal »hundert Meilen« vom »Schauplatz der Revolution« entfernt, keinerlei Grund gebe.
Kant versucht, alle empirischen Bestandteile herauszulösen aus der Veränderung der Denkungsart, deren Notwendigkeit sich bestätigt hat. Er negiert im Grunde, dass die Folgen, selbst jene einer Transposition der objektiven Revolution in die Denkungsart, durch Verbreitung in einem anderen Volk gefährlich werden könnten. Selbst diesen empirischen Rest, dass andere Folgerungen aus dieser Philosophie ziehen, muss Kant entfernen, damit so etwas wie ein Allgemeines gelten kann. Nun bedeutet das keineswegs bei Kant, im Übrigen auch nicht bei Hegel, eine schlichte äußerliche Anpassung an die Verhältnisse. Worauf ich hinaus will bei dieser Kantinterpretation ist vielmehr, dass die Produktion der Philosophie in Preußen darauf hinauslief, die empirische Seite hinauslösen zu müssen, was sich als ein Zwiespalt durch die ganze Kantische Philosophie zieht. Ob man nun den empirischen und intelligiblen Charakter nimmt, ob man die Rechtsbehauptung und die Affekte nimmt – die dichotome Struktur dieser Philosophie produziert solche Mechanismen, weil mit der Bestätigung der Revolution gleichzeitig eine chronische und fundamentale Revolutionsangst mitgesetzt ist als wichtiger Bestandteil des bürgerlichen Denkens. Wahrscheinlich entspringt dieser Revolutionsangst überhaupt die philosophische Produktivität in diesen Systemen.
Natur und Revolution – Kants Geschichtsphilosophie
Vorlesung vom 1. November 1974
Wer sich mit Kants Geschichtsbegriff und seinem Begriff der bürgerlichen Revolution befasst, muss sich gleichzeitig auch mit seinem Begriff von Natur beschäftigen. Das geschichtliche Interpretieren von geschichtlichen Ereignissen der Gegenwart ist nicht nur bei Kant, sondern insgesamt in der bürgerlichen Gesellschaft der revolutionären und unmittelbar nachrevolutionären Periode immer gebunden an eine bestimmte, sehr differenzierte Vorstellung von Natur. Wir wollen hier jedoch nicht jenen Naturbegriff behandeln, wie er sich in der »Kritik der reinen Vernunft« findet. Dort ist Natur sehr abstrakt als das Dasein der Dinge unter Gesetzen definiert. Ebenso wenig geht es um jene Vorstellung von Natur, die mit dem Geniebegriff in der »Kritik der Urteilskraft« verbunden ist. Es geht vielmehr um den Naturbegriff in den geschichtsphilosophischen Arbeiten von Kant, und dieser lässt sich nach verschiedenen Gesichtspunkten aufgliedern.
Er bezeichnet zum einen eine anthropologische Dimension, zum anderen das, was später bei Marx »naturwüchsig« heißt. 33Darüber hinaus bezeichnet er schlicht geografische Bedingungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens, also Natur in einem unmittelbaren Sinn, und schließlich das, was im Begriff ›Naturrecht‹ enthalten ist, also eine Vorstellung der Natur, die bei der gesamten Naturrechtslehre des Bürgertums eher das meint, was gerade nicht Natur ist. Eigentlich ist dieses Naturrecht ein Vernunftrecht, und es wird noch zu fragen sein, warum es gleichwohl als Naturrecht bezeichnet wird.
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