Diese Denkungsart aktualisiert das Gesetz der Menschheit in der Person, denn sie bezieht sich auf das, was Kant mit Menschheit und mit dem Allgemeinen bezeichnet. Was sich hier, so Kant, herausbildet angesichts der Französischen Revolution ist der Citoyen, der allgemeine Bürger, der sich im Grunde von materiellen Interessen emanzipiert hat und nur das Interesse der Menschheit vertritt. Worin zeigt sich das am deutlichsten? Er nimmt Gefahren auf sich für Dinge, von denen er nach Kant nicht profitiert. Das heißt, er spricht diese revolutionäre Denkungsart in einzelnen Dingen aus und riskiert damit Amt und Würden, riskiert damit, dass die Menschen ihn als einen Revolutionär ansehen. Warum macht er das? Kant ist überzeugt, dass ein Mensch nur etwas riskiert entweder aus materiellen Interessen, also Interessen des Bourgeois, oder wenn er die Menschheit vertritt. Dieser Dualismus zwischen Interessen und Moralität ist damit ein für alle Mal zementiert: Ein Mensch, der Interessen vertritt, vertritt nicht die Würde. Alles was einen Preis hat, hat keine Würde, und die Würde definiert sich dadurch, dass sie nicht austauschbar ist. Die absolute Unaustauschbarkeit der Würde ist das, was sie mit Interessen unvereinbar macht. Die absolute Unaustauschbarkeit der revolutionären Denkungsart ist das, was sie vom Bourgeois-Interesse absetzt. Diese Unaustauschbarkeit hat immer zur Grundlage die direkte Beziehung zur Menschheit, zu dem, was man mit dem Begriff der Menschheit und dem Begriff von Emanzipation verbindet.
Der Begriff der Revolution und der Geschichte als einem geschichtslosen Prozess bezieht sich bei Kant auf eine Form von Affekten, die keine mehr sind. Wenn man so will, transponiert er alle realen materiellen Bewegungsmomente in eine allgemeine Innerlichkeit. Nicht nur die empirische Revolution wird zur Revolution der Denkungsart, sondern auch die Affekte werden zu allgemeinen Affekten.
Dies also und die Teilnehmung am Guten mit Affekt, der Enthusiasm, ob er zwar, weil aller Affekt als ein solcher Tadel verdient, nicht ganz zu billigen ist, gibt doch vermittelst dieser Geschichte zu der, für die Anthropologie wichtigen Bemerkung Anlaß: daß wahrer Enthusiasm nur immer aufs Idealische und zwar rein Moralische geht, dergleichen der Rechtsbegriff ist, und nicht auf den Eigennutz gepfropft werden kann. 26
Wir sehen auch hier eine Transposition von Empirischem – Gefühle, Affekte sind etwas Erfahrbares – in eine Dimension, die etwas Allgemeines ist. Kant versucht eigentlich immer, Geschichtliches und Materielles in Allgemeines zu transponieren. Das ergibt natürlich eine spezifische Widersprüchlichkeit: Wie er sich eine revolutionäre Denkungsart ohne Revolution vorstellt, imaginiert er Affekte ohne Gefühle. Was hier Affekt ist, ist das Allgemeinste von Gefühlen, ist eigentlich eine rein allgemeine Beziehung zum Idealischen, was immer das heißen mag, jedenfalls eine Beziehung, die frei ist von der Zufälligkeit der Gefühle, von Glück, Wohlwollen, Wohlstand und so weiter. Die Teilnahme am Guten, das enthusiastische Zuschauen bei der Revolution als dem Guten, ist eigentlich ohne Gefühle nicht zu denken, aber anderenfalls würde sich darin wieder etwas Zufälliges ausdrücken, etwas Empirisches, Vergängliches, Nicht-Allgemeines. Deshalb ist diese Transposition von etwas Empirischem in Affekte ein wichtiger Mechanismus, um die Revolution ins Subjekt zu transponieren. Kant führt das weiter aus:
Durch Geldbelohnungen konnten die Gegner der Revolutionierenden zu dem Eifer und der Seelengröße nicht gespannt werden [die konterrevolutionären Heere, die Paris eingrenzten, konnten durch Geld und Belohnung und die Antreiberei von Offizieren nicht zur Seelengröße gespannt werden, Anm. Negt], den der bloße Rechtsbegriff in ihnen hervorbrachte, und selbst der Ehrbegriff des alten kriegerischen Adels [ein Analogon des Enthusiasm, Anm. d. Ver.] verschwand vor den Waffen derer, welche das Recht des Volks, wozu sie gehörten, ins Auge gefaßt hatten, und sich als Beschützer desselben dachten; mit welcher Exaltation das äußere, zuschauende Publikum dann, ohne die mindeste Absicht der Mitwirkung, sympathisierte. 27
Hier argumentiert Kant wirklich filigran und in mehrfacher Hinsicht äußerst komplex. Immer wieder betont er, dass er in den eigentlich Mitwirkenden nicht das Subjekt erblickt. Allerdings lässt sich mit der Aktivität der Sympathisanten nicht erklären, warum sich die Revolution gegenüber den Konterrevolutionären halten konnte, was nur durch die Aktivität von Revolutionären selbst gelang, die doch dem alten Ehrbegriff nicht viel abgewinnen konnten. Kant erläutert: Was einst der kriegerische Adel mit seinem Ehrbegriff als einem Allgemeinen, Verpflichtenden versucht hat, habe hier die reine Form bewirkt, nämlich die reine Rechtsbehauptung, das Recht als ein Allgemeines, ein Recht der Menschheit und der Menschlichkeit. Die Rechtsbehauptung ist es, die den Enthusiasmus erzeugt.
Was aber bedeutet Rechtsbehauptung hier? Es bedeutet, dass sich die Menschen, unabhängig von allen partikularen Interessen, direkt auf das Allgemeine beziehen, auf das, was alle verbindet, was für alle verbindlich ist, was formal ist. Die Form macht gewissermaßen die Kraft aus: Bloße Rechtsbehauptung kann also einen Enthusiasmus bewirken, der – völlig unangesehen der eigenen Interessen – dem Volk bestimmt, sich selbst zu befreien.
Diese Revolution abzüglich der empirischen Revolution drückt sich noch in einem weiteren prekären Punkt bei Kant aus. Er spricht auf der einen Seite von Revolution, von der Revolution eines geistreichen Volkes, und an einer anderen Stelle in der »Kritik der reinen Vernunft« von einer revolutionären Denkungsart. Er gebraucht dabei den Begriff der Revolution sehr präzise für die Umstülpung der gesamten Verhältnisse, und gleichwohl sagt er, diese Revolution sei nichts weiter als die »Evolution einer naturrechtlichen Verfassung«.
Diese Begebenheit ist das Phänomen nicht einer Revolution, sondern (wie es Hr. Erhard ausdrückt) der Evolution einer naturrechtlichen Verfassung, die zwar nur unter wilden Kämpfen noch nicht selbst errungen wird – indem der Krieg von innen und außen alle bisher bestandene statutarische zerstört [statutarisch bedeutet das traditionelle Naturrecht, im Unterschied zum rationalen, modernen Naturrecht, Anm. Negt], die aber doch dahin führt, zu einer Verfassung hinzustreben, welche nicht kriegssüchtig sein kann, nämlich der republikanischen; die es entweder selbst der Staatsform nach sein mag, oder auch nur nach der Regierungsart. 28
Diese naturrechtliche Verfassung zeichnet sich gegenüber allen bisherigen dadurch aus, dass sie friedlich ist, ihrem Sinngehalt nach auf das Allgemeine verpflichtet, also nicht auf das Partikulare, antagonistisch Kämpfende. Diese per se friedliche Verfassung, wie Kant sie erstrebt, verbietet den Angriffskrieg. Ein wesentliches Element der Kantischen Sichtweise auf die Französische Revolution ist die Tatsache, dass sie Angriffskriege verbiete, diese jedenfalls nicht nötig habe, während für alle feudalen Systeme der Angriffskrieg ein wesentliches Merkmal oder jedenfalls nicht grundsätzlich abgeschafft sei. Darauf, dass in der republikanischen Verfassung der Angriffskrieg, wenn auch nicht empirisch, so doch grundsätzlich aufgrund allgemeiner Regeln abgeschafft ist, kommt es ihm an. Selbstverständlich gibt es Kriege, aber sie sollten nicht sein und sind unter republikanischer Verfassung nicht legitimierbar:
Nun behaupte ich dem Menschengeschlechte, nach den Aspekten und Vorzeichen, unserer Tage die Erreichung dieses Zwecks und hiemit zugleich das von da an nicht mehr gänzlich rückgängig werdende Fortschreiten desselben zum Besseren, auch ohne Sehergeist, vorhersagen zu können. Denn ein solches Phänomen in der Menschengeschichte [hier kommt wieder das ungeheure Pathos Kants zum Ausdruck, was die Französische Revolution betrifft, Anm. Negt] vergißt sich nicht mehr, weil es eine Anlage und ein Vermögen in der menschlichen Natur zum Besseren aufgedeckt hat, dergleichen kein Politiker aus dem bisherigen Laufe der Dinge herausgeklügelt hätte, und welches allein Natur und Freiheit, nach inneren Rechtsprinzipien im Menschengeschlechte vereinigt, aber, was die Zeit betrifft, nur als unbestimmt und Begebenheit aus Zufall verheißen konnte. 29
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