„Wer ist denn der Maskenbär?“, fragte Kleinheinz verwirrt.
Will zeigte seiner Frau einen Vogel. „Sag mal, Marlene geht’s noch? Wie kannst du der Peter so ein Blödsinn erzählen! Der denkt doch, wir hätten sie nicht mehr alle. Außerdem musst du das anders erzählen.“ Mit diesen Worten wandte er sich wieder an den Kommissar. „Also, unser damaliger Pastor war zu dem Zeitpunkt schon ein bisschen verkalkt. Der ist auch kurz nach diesem Vorfall vom Bistum Aachen mit 96 Jahren gegen dem sein Willen in der Vorruhestand versetzt worden. Auf jeden Fall hatte der ein Problem mit die Julia, weil die immer so Miniröcke getragen hat und alle Männer im Dorf verrückt waren nach die … außer ich jetzt. Auf jeden Fall hat der dann im Pfarrbrief das alberne Gerücht mit der Maskenbär in die Welt gesetzt. Der hat geschrieben, dass der Maskenbär die Julia an der Hochsitz aufgehängt hat, wegen weil die immer so rumgelaufen ist. Der Maskenbär gilt hier in Saffelen nämlich als Todesbote. Aber was Pastor da geschrieben hat, war natürlich absoluter Blödsinn – der Maskenbär holt sich im Prinzip nur kleine Kinder, die nicht vom Spielen reinkommen, wenn es dunkel wird. Außerdem benutzt der überhaupt kein Lasso, sondern erwürgt die Kinder mit seine Tatzen. Das weiß doch jeder.“
Der Irlandurlaub hatte Kleinheinz Ruhe und Gelassenheit gelehrt. Und so hakte er amüsiert nach: „Und der Maskenbär lebt im Saffelener Wald?“
Marlene nickte betreten und Will führte weiter aus: „Richtig. Also, genau genommen ist das nur eine Sage, für die kleinen Saffelener Kinder pädagogisch zu erziehen. Obwohl der Eidams Theo behauptet, dass der der Maskenbär mal leibhaftig begegnet wäre – wie der betrunken vom Schützenfest nach Hause kam. Der sagt, der Maskenbär wäre ein zwei Meter großer Waschbär gewesen. Also, der heißt deshalb Maskenbär, weil Waschbären immer so eine schwarze Maske quer über den Augen haben.“
„Da muss ich kurz eine Zwischenfrage stellen“, warf Kleinheinz belustigt ein. Er wusste plötzlich wieder, weswegen er das schrullige Ehepaar in den letzten anderthalb Jahren gelegentlich vermisst hatte. Käsekuchen kauend fragte er: „Im Saffelener Wald gibt’s also Waschbären? Ich dachte, die leben hauptsächlich in Nordamerika.“
Marlene beugte sich auf ihrem Stuhl nach vorne und antwortete ernst: „Normal ja. Aber 1969 hat der Wildtierpark Gangelt aufgemacht und ein Jahr später ist da ein Waschbärehepaar weggelaufen und hat sich in den umliegenden Wäldern vermehrt. Und wie! Anfang der 80er gab es hier in der Gegend sogar eine richtige Waschbärenplage. Und zu der Zeit ist auch die Sage von der Maskenbär entstanden. Da gab es hier eine Zeit lang eine richtige Maskenbär-Hysterie. Mittlerweile sind die Waschbären aber wieder ausgestorben. Also, ich habe jedenfalls schon ewig keinen mehr gesehen.“
„Ah, verstehe“, nickte Kleinheinz, „ein Neozoon also.“
„Nee, der Wildtierpark ist kein Zoo“, sagte Will.
„Nein, nein. Neozoon nennt man ein Tier, das durch menschlichen Einfluss irgendwo angesiedelt wurde, wo es nicht heimisch ist.“
Marlene sah Kleinheinz voller Bewunderung an. Nie war ihr jemand begegnet, der so attraktiv wirkte, obwohl er Fremdwörter gebrauchte. Will entging der schmachtende Blick seiner Frau nicht und so versuchte er, wieder das Thema zu wechseln. „Na ja, wie auch immer. Auf jeden Fall hat sich die Julia 1982 im Wald aufgehängt.“
„Ach ja, richtig“, sagte Kleinheinz. „Und was hat jetzt Theo Jaspers damit zu tun?“
Will hob die Schulter. „Ja, das wusste ich bis eben auch nicht, dass der Theo in die Julia drin verliebt war.“
„Ach hör doch auf“, Marlene stieß ihn an. „Du hast doch eben selbst gesagt, dass alle Saffelener Männer hinter die Julia her waren. Die war die beste Partie im ganzen Dorf.“
„Ich war nicht in die drin verliebt“, verteidigte sich Will lautstark, „außerdem war ich doch schon mit dir verheiratet. Da hatten wir ja sogar Sabine schon.“
„Der Theo war auch schon mit die Anneliese verheiratet. Und die hatten auch schon der Fredi.“
„Ach, sieh an“, Kleinheinz schürzte genüsslich die Lippen, „von wegen heile Welt. Sodom und Gomorrha ist das hier in Saffelen. Also, wenn ich jetzt im Dienst wäre, würde ich sagen: Das riecht nach einer Beziehungstat. Na ja, aber andererseits hat die Spurensicherung ja den Selbstmord festgestellt.“
„Spurensicherung?“, fragte Will. „Also, du meinst jetzt so Leute, wie die, die damals hier waren, wie der Kaufladen von Eidams überfallen worden war?“
Kleinheinz nickte.
„Nee, so was gab es damals noch nicht“, widersprach Will. „Zu der Zeit hatten wir noch ein Dorfpolizist, Jütten Karl-Josef. Ein ganz scharfer Hund. Der hatte in der Grundschule eine eigene Wache und hat damals zusammen mit der Dr. Hoppe der Selbstmord von die Julia festgestellt. Also mit der tote Dr. Hoppe. Der Vater von der jetzige Dr. Hoppe.“
„Ach?“, murmelte Kleinheinz und zupfte sich nachdenklich am Ohrläppchen.
„Warum sagst du denn so komisch ‚Ach‘?“, fragte Marlene.
„Das muss nichts zu bedeuten haben. Ich kenne das nur so, dass ein Suizid immer von der KTU Aachen untersucht und bestätigt werden muss. Das gilt für alle unnatürlichen Todesfälle. Aber früher war das wahrscheinlich schon mal öfter so, dass das dann ein Hausarzt machte oder, wie hier, ein Hausarzt und ein Dorfpolizist. Allerdings kann man gerade bei ‚Erhängen‘ viel übersehen. Was meint ihr, wie viele Morde nicht als solche erkannt werden.“
Will und Marlene starrten ihn entsetzt an. Fast gleichzeitig sagten sie: „Mord? Du meinst …?“
Als Kleinheinz gewahr wurde, was er angerichtet hatte, wedelte er hektisch mit beiden Händen, so als wolle er versuchen, seinen letzten Gedanken aus dem Raum zu vertreiben. „Um Gottes willen, nein! Ich habe doch nur laut gedacht. Das war nur eine blöde Idee. Natürlich war das damals ein Selbstmord. Das liegt doch auf der Hand. Zuerst der Freund und dann …“
Doch Hastenraths Will hörte schon längst nicht mehr zu. In Gedanken begab er sich bereits auf die Spur eines unheimlichen Meuchelmörders. Verwegen, furchtlos und nur bewaffnet mit seinem messerscharfen Verstand.
Donnerstag, 8. September 2011, 17.51 Uhr
Müde und abgekämpft betrat Hastenraths Will das Wohnzimmer. Es lag ein langer Tag auf dem Hof hinter ihm, der mit dem Melken der Kühe um halb sechs begonnen und vor wenigen Minuten mit dem Melken der Kühe auch wieder aufgehört hatte. Nun freute er sich auf seinen Fernsehsessel mit der automatischen Kippfunktion und den breiten Armlehnen, die ihn in wenigen Sekunden in Empfang nehmen und ungefähr bis zu den Tagesthemen liebevoll umschließen würden. Wie er diesen Moment liebte! Bevor er seine Gummistiefel abstreifte, um seine Füße auf dem gepolsterten Hocker abzulegen, stellte er sich noch ein Weinbrandglas und eine zu drei viertel gefüllte Flasche Dujardin auf dem Wohnzimmertisch zurecht. Daneben lagen ordentlich die aktuelle Ausgabe der Prisma und die Fernbedienung, deren Funktionstüchtigkeit er in letzter Zeit des Öfteren mit einem leichten Schlag auf die Tischkante hatte wiederherstellen müssen. Er zog die Stiefel aus und ließ sich gemütlich in seinen Ohrensessel sinken – nur, um eine Sekunde später wieder hochzuschrecken, weil die ohrenbetäubende Türklingel loskreischte und mit ihr Attila im Hof. Will fuhr mit seiner rechten Hand über sein Herz und musste zweimal schnell durchatmen. „Verdammte Klingel“, entfuhr es ihm. Nachdem er sich wieder gesammelt hatte, brüllte er mit lauter Stimme durchs Haus: „Marlene, geh mal nach die Tür. Es hat geklingelt.“ Ihre Antwort kam prompt, aber sehr gedämpft aus dem oberen Stockwerk. „Ich bin noch im Badezimmer. Geh du mal.“
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