Vor drei Tagen war er zum ersten Mal seit seinem Umzug zurückgekehrt nach Saffelen, in jenen winzigen Ort, in dem er die ganzen 35 Jahre seines vorherigen Lebens verbracht hatte. Er hatte Angst gehabt. Angst davor, dass die Wehmut und die Gedanken an die schöne, alte Zeit ihn wieder festhalten würden in der Provinz. Doch nichts von alledem war passiert. Auch wenn ihn der Abschied von seinem Kumpel Richard Borowka immer geschmerzt hatte, so war das Wiedersehen zwar schön, aber nicht so, dass er hierbleiben wollte. Im Gegenteil, er hatte seine Reisetasche noch nicht mal richtig ausgepackt, so schnell wollte er wieder zurück nach Berlin. Sobald er hier alles erledigt hatte. Alles erledigt. Wie das klang, dachte er. War er ein schlechter Mensch? Er wendete seinen Blick ab vom Zifferblatt der Standuhr und sah hinüber zum Sessel, in dem seine Mutter kauerte. Sie saß leicht vornübergebeugt und bedeckte ihr Gesicht mit den Handflächen. Leise und stoßweise schluchzte sie vor sich hin. Wie viele Tränen ein Mensch haben muss. Seit er da war, hatte seine Mutter nicht aufgehört zu weinen. Fredi wusste nicht recht, wie er damit umgehen sollte. Zu Anfang hatte er sie immer wieder in den Arm genommen, aber als das nicht half, hatte er sich mehr und mehr zurückgezogen. Und gewartet. Auf das Ende.
Die oberste Treppenstufe knarzte. Ein weiteres vertrautes Geräusch, das Fredi sofort an seine Kindheit erinnerte. Es kündigte früher immer den Vater an, der nach seinem Mittagsschlaf ins Wohnzimmer herunterkam. Fredi sah auf. Er wusste, dass er diesmal dort oben nicht seinen Vater sehen würde. Stattdessen erschien Dorfarzt Dr. Hoppe. Der junge Mediziner, der erst vor einem Jahr die Praxis seines Vaters übernommen hatte, räusperte sich übertrieben laut. Auch Fredis Mutter sah nun auf. Ihre verquollenen Augen waren vom Weinen gerötet. Dr. Hoppe wirkte müde und blass und stützte sich mit einer Hand am Geländer ab, während der das Unvermeidbare aussprach: „Es ist so weit.“
Als Fredi als Letzter das Zimmer betrat, fröstelte es ihn. Der ganze Raum wirkte wie ein Mausoleum. In den letzten Tagen hatten Verwandte Blumen und Genesungskarten vorbeigebracht. Fredis Mutter hatte sie kunstvoll auf der Kommode drapiert, die dadurch einem Altar immer ähnlicher wurde. Theo Jaspers lag mit aschfahlem Gesicht und eingefallenen Wangenknochen in einem schneeweißen Bett. Die Tagesdecke war bis unter sein Kinn hochgezogen. Dennoch konnte man erkennen, dass die kurze, schwere Krankheit seinen Körper ausgemergelt hatte. Auf einem Stuhl neben dem Bett saß der indische Pastor Buttra Kuttrapalli und hatte dem Sterbenden die Hand auf die Stirn gelegt. Mit starkem indischen Akzent murmelte er: „Durch diese heilige Salbung helfe dir der Herr in seinem reichen Erbarmen, er stehe dir bei mit der Kraft des Heiligen Geistes: Der Herr, der dich von Sünden befreit, rette dich, in seiner Gnade richte er dich auf.“
Dr. Hoppe machte einen Schritt auf Fredi zu und sagte: „Sie können mit ihm reden. Er ist jetzt bei Bewusstsein.“ Fredi erschrak. Und tatsächlich: Theo Jaspers hatte die Augen, die tief in den Höhlen lagen, leicht geöffnet. Fredis Mutter stieß einen kurzen Schrei aus, als auch sie es bemerkte. Es war ein Schock für sie, denn ihr Mann hatte in den letzten Tagen, seit er zu Hause auf den Tod wartete, das Bewusstsein nicht mehr zurückerlangt. Er war bereits im Krankenhaus ins Koma gefallen. Fredi fand als Erster Worte: „Heißt das, dass er wieder …?“ Hoppe schüttelte den Kopf: „Nein. So etwas kommt bei Sterbenden häufig vor. Kurz bevor es zu Ende geht, sind sie noch einmal für einen Moment klar. So eine Art Totenbettvision.“
Frau Jaspers war vor Fredi getreten und stand nun mit ihm am Fußende des Bettes. Sie sah ihren Mann mit tränenverschleierten Augen an und stammelte: „Theo, ich … wie …“ Sie hielt den Atem an, als ihr Mann seinen Kopf kaum merklich anhob und mit fast blindem Blick in ihre Richtung starrte. Zuerst quälte sich ein schwaches Röcheln aus dem ausgetrockneten Mund, dann folgten kehlige Laute. Mühsam formte Theo Jaspers einen Satz, der dann aber sehr deutlich verständlich über seine Lippen kam: „Es tut mir leid. Ich habe dich geliebt – Julia.“ Dann ging alles ganz schnell. Die Augen verdrehten sich grotesk und der Kopf von Theo Jaspers kippte leicht zur Seite. Im selben Augenblick stöhnte Fredis Mutter laut auf und fiel in Ohnmacht. Fredi, der hinter ihr stand, konnte sie gerade noch auffangen. Auch auf seinem Gesicht spiegelten sich Entsetzen und Verwirrung. Dr. Hoppe legte ihm tröstend den Arm auf die Schulter und sagte: „Das ist normal. Kümmern Sie sich in den nächsten Tagen ein wenig um Ihre Mutter.“ Fredi starrte den Arzt ausdruckslos an und antwortete: „Nee, das ist nicht normal. Meine Mutter heißt mit Vorname Anneliese.“
Mittwoch, 7. September 2011, 17.06 Uhr
Ächzend kniete sich Hastenraths Will vor den Bottich. Sein grün-weiß kariertes Hemd hatte er bis zum Oberarm hochgekrempelt. Mit seinen Armen wühlte er in einer undefinierbaren Pampe aus Wasser, Getreide, Kraftfutter und Küchenabfällen. Leise fluchend vermengte er das übel riechende Gemisch, das er später seinen Schweinen in den Trog füllen würde. Der Landwirt war ausgesprochen schlecht gelaunt, da das Anmischen des Futters eigentlich die Aufgabe seiner Frau war. Doch seit Marlene Hastenrath sich in den Kopf gesetzt hatte, zusammen mit den katholischen Strickfrauen Saffelen mit regelmäßigem Fitnesstraining im Pfarrsälchen den Kampf gegen das Übergewicht aufzunehmen, blieb die Handlangerarbeit auf dem Hof immer öfter an Will hängen. Und obwohl das Training recht zeitintensiv war, waren Will in den letzten Wochen keinerlei körperliche Veränderungen an seiner Frau aufgefallen. Wütend zermatschte er einen faulen Apfel in seiner Hand. Das schrille Bimmeln der Haustürklingel, das mit ohrenbetäubender Lautstärke bis in die hinteren Stallungen übertragen wurde, ließ ihn herumfahren. Gleichzeitig begann Hofhund Attila aus heiserer Kehle zu bellen und sprang ungestüm in seinem Käfig umher. Das Getöse macht mich noch wahnsinnig, dachte Will. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Erst fünf Minuten zuvor hatte es Sturm geklingelt. Will hatte es jedoch ignoriert, weil er keinen Besuch erwartete. Und selbst wenn jemand Kartoffeln, Möhren oder Kohlrabi hätte kaufen wollen, so wäre auch das kein Grund für ihn gewesen, die Tür zu öffnen. Denn auch dieser Geschäftsbereich gehörte zu Marlenes Aufgaben, da sie wesentlich besser darin war, unter Druck so komplizierte Sachen wie Wechselgeld auszurechnen. Doch diesmal blieb der Besuch hartnäckig, denn erneut jaulten die Klingel und Attila unerbittlich auf. Wütend erhob sich Will, rieb seine Arme notdürftig mit einem alten, löchrigen Spüllappen ab und stapfte auf seinen Gummistiefeln durch den Flur in Richtung Küche. Als er von der Küche in den Flur einbog, rutschte einer der Hosenträger, die Wills ausgebeulte graue Arbeitshose zu halten versuchten, herunter. Fluchend schob er ihn wieder zurück auf die Schulter und riss die Haustür auf. „Wer zum Teufel …?“
Er hielt verdutzt inne, denn das markante Gesicht, das ihm mit perlweißen Zähnen entgegenstrahlte, kam ihm nur zu bekannt vor. Bei der klingelnden Nervensäge handelte es sich um Peter Kleinheinz, jenen Kommissar, mit dem Hastenraths Will in der Vergangenheit schon den ein oder anderen Kriminalfall gelöst hatte. Seit dem letzten Fall waren allerdings schon fast zwei Jahre vergangen. Damals hatten sie gemeinsam einen Killer zur Strecke gebracht, der aus dem Gefängnis ausgebrochen war. Kleinheinz hatte dabei eine komplizierte Verletzung davongetragen. Monate später waren sie sich noch mal auf dem Heinsberger Stadtfest begegnet, zu dem Marlene Will mitgeschleppt hatte. Kleinheinz ging damals noch an Krücken, was Marlenes Begeisterung für den gut aussehenden Polizisten aber nicht im Geringsten gedämpft hatte. Und auch jetzt musste Will feststellen, dass der Kommissar immer noch aussah, als sei er einem Katalog für Herrenmode entsprungen. Das eng taillierte, kurzärmelige Hemd, das seinen muskulösen Oberkörper vorteilhaft in Szene setzte, und die angegrauten Schläfen seines vollen Haars würden Marlene wieder an den Rand einer Ohnmacht bringen. Zum ersten Mal seit Langem war Will froh, dass seine Frau beim Training und nicht zu Hause war.
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