Fredi schüttelte den Kopf, worauf Borowka eifrig fortfuhr: „Doch. Das war mit die scharfe Tussi, die nachts als Schweißerin arbeitet und tagsüber versucht, ihr Traum als Tänzerin zu verwirklichen. Die verliebt sich in ihr Chef und wird am Ende in eine berühmte Tanzschule aufgenommen. Rita hat damals das ganze Kinno zusammengeheult, dabei finde ich, dass der Film total unrealistisch war. Musst du mir mal vorstellen: In eine Szene, da schweißt die zwei Bleche zusammen und da ist die Flamme vor dem Draht und die schweißt trotzdem nach links. Das geht doch überhaupt nicht. Was macht eigentlich die Sabrina von Beruf?“
„Jedenfalls nicht schweißen“, lachte Fredi. „Nee, die ist diplomierte Fußpflegerin. Die wohnt jetzt in Friedrichshain. Gebürtig kommt die aber aus Potsdam.“
„Potsdam? Jetzt weiß ich, was der Haken ist. Das ist eine Ossi-Frau! Potsdam ist doch in der DDR, oder?“
„Sag mal, geht’s noch?“, entrüstete sich Fredi. „Die DDR gibt es doch überhaupt nicht mehr. Bestimmt schon zehn Jahre nicht mehr.“
„Bloß, weil es die Mauer nicht mehr gibt, heißt das nicht, dass es die DDR nicht mehr gibt.“
Fredi machte eine Scheibenwischerbewegung vor seinem Gesicht. „So ein Quatsch. Weißt du, was das ist? Das ist die Mauer in dein Kopf. Das hat die Sabrina mir auch gesagt, als ich die gefragt habe, ob die ein Trabbi fährt.“
„Was ist los? Mauer in mein Kopf? Bist du besoffen? Sag mal, bist du jetzt in Berlin Phillesofie-Professor geworden, oder was?“
„Das hat doch damit nix zu tun. Und gerade du als Saffelener musst über Ossis erzählen. Hier, direkt an der Grenze zu Holland.“
„Ja, jetzt reg dich mal ab“, beschwichtigte Borowka, zufrieden über den Umstand, dass Martina längst kein Thema mehr war. „Apropos Holland. Sollen wir da morgen nicht mal rüberfahren? Da gibt es ein saucooler neuer Coffee-Shop. Den hat Rita vor zwei Wochen entdeckt, wie die drüben tanken war – zusammen mit Martina und ihr neuer Typ.“ Fredi zuckte zusammen und ließ die Zigarette fallen. Ups, dachte Borowka.
Mittwoch, 7. September 2011, 17.33 Uhr
Will, Marlene und Peter Kleinheinz saßen um den Küchentisch und genossen den Käsekuchen und einen frisch aufgebrühten Kaffee, den Marlene sogar mit aufgeschäumter Milch verfeinert hatte. Ein Trick, den ihr eine Freundin von den katholischen Strickfrauen verraten hatte. Marlene hatte sich frisch gemacht und umgezogen, was in ihrem Fall bedeutete, dass sie jetzt einen Haushaltskittel trug. Während dieser Zeit hatte Kleinheinz Will mit großem Interesse beim Füttern der Tiere über die Schulter geschaut.
Der Landwirt goss sich gerade die zweite Tasse Kaffee ein, als er Kleinheinz fragte: „Na, wär das Landleben nix für dich? Jetzt, wo du etwas kürzer treten willst? Ich hatte eben der Eindruck, dass du viel Spaß an die kleinen Ferkelchen hattest.“
„Das stimmt“, strahlte Kleinheinz. „Mir war gar nicht bewusst, was Schweine für süße Tiere sind. Wie viel Lebensfreude die ausstrahlen! Ist das eigentlich normal, dass die auch alle Namen haben?“
„Bei uns hat das Tradition“, sagte Will stolz und goss Kleinheinz ebenfalls nach, obwohl der zaghaft abwehrte. „Schon als ich ein Kind war, da hatten bei uns auf dem Hof alle Tiere Namen. Bis auf die Hühner, die konnte man so schlecht auseinanderhalten. Ich kann mich sogar erinnern, dass wir eine Zeit lang so viele Schweine hatten, dass wir manche Namen sogar doppelt vergeben mussten. Das hat natürlich auch schon mal zu Verwechslungen geführt. Wenn nachmittags zum Beispiel ein Schulkamerad von mir klingeln kam und gefragt hat: „Kommt der Will zum Spielen raus?“, da hat meine Mutter schon mal für dem gesagt: „Nee, der Will kann nicht. Der hat eben Beruhigungstabletten bekommen, der wird gleich kastriert.“
Kleinheinz verzog das Gesicht.
„Will!“, ermahnte Marlene ihren Mann.
„Ist ja gut. Aber, für noch mal dadrauf zurückzukommen: Hier in Saffelen kann man gut und billig leben. Und im Neubaugebiet werden demnächst bestimmt ein paar schöne Häuser versteigert. So, wie die Zugezogenen sich da teilweise übernommen haben.“
„Ich weiß nicht“, sagte Kleinheinz kauend, „ich glaube, ich bin eher ein Stadtmensch.“
„Und warum wohnst du dann in Heinsberg?“, lachte Will.
„Jetzt ist es aber gut, Will“, schimpfte Marlene. „Hör endlich auf, der Peter zu verulken. Sag mal, Peter, warum trägst du eigentlich deine Pistole am Gürtel? Ich denk, du hast Urlaub?!“ Kleinheinz blickte auf sein Holster und strich mit der Hand über seine Dienstwaffe. „Ach, weißt du, die trage ich eigentlich immer seit dem Überfall. Als ich damals im Büro niedergeschossen wurde, hatte ich keine Waffe, um mich zu verteidigen. Und das hat mich wohl irgendwie traumatisiert. Ich geh heute nicht mehr ohne Pistole vor die Tür. Aber mein Psychologe sagt, das wär völlig okay.“
Will verschluckte sich. Verständnislos sah er den Kommissar an: „Was ist los? Du gehst nach ein Psychologe? Bist du denn …?“
„Verrückt?“ lächelte Kleinheinz. „Ich denke nicht. Oder besser: Ich hoffe nicht. Da ist doch nichts dabei, zu einem Psychologen zu gehen. Durch den Angriff hatte ich eine sogenannte posttraumatische Belastungsstörung. Und da arbeiten wir dran. Das hat mir wirklich sehr geholfen. Ich fühle mich richtig gut. Das solltest du auch mal machen, Will. Gerade du. Was dir alles so passiert ist in den letzten Jahren! Das ein oder andere hat dich sicher auch traumatisiert.“
Will schüttelte energisch den Kopf. „Unsinn! Also, für traumatologisiert zu werden, da habe ich nun wirklich keine Zeit. Meinst du, so ein großer Hof macht sich in der Zwischenzeit von alleine?“
„Was hat das denn damit zu tun, Will?“, schaltete sich Marlene entrüstet in das Gespräch ein. „Als wenn man sich das aussuchen könnte! Der Dr. Hoppe hat gesagt, die Frau Jaspers braucht jetzt auch dringend ein Psychologe, für damit klarzukommen. Das ist doch nix Schlimmes.“
Doch Will ließ sich nicht bremsen. „So weit kommt es noch! Natürlich ist das nicht schön, wenn einer stirbt, aber wenn man dann jedes Mal so ein Psychoheini rufen würde, für wieder klarzukommen … Die machen sich doch alle bloß die Taschen voll, diese …“
„Ach so, das weißt du ja noch gar nicht“, unterbrach Marlene den Redeschwall ihres Mannes. „Es geht sich nicht dadrum, dass der Theo tot ist, sondern um das, was der auf dem Sterbebett für die Anneliese gesagt hat.“
Und dann erzählte Marlene den beiden Männern, was soeben in der Aerobicstunde Gesprächsthema Nummer eins gewesen war: Julia, der letzte Name, den Theo Jaspers vor seinem Tod erwähnt hatte. Und vor allem, dass er eben dieser Julia seine Liebe gestanden hatte.
„Wer ist denn Julia?“, fragte Kleinheinz neugierig, während Marlene ihm ein zweites Stück Kuchen auf den Teller schaufelte.
Will rieb sich nachdenklich das Kinn. „Ja, meinst du denn, der meinte die Julia von damals?“
„Kennst du irgendseine andere?“, fragte Marlene.
„Das ist komisch“, sagte Will, während er sich wieder Kleinheinz zuwandte. „Julia war ein hübsches Mädchen hier aus Saffelen. Eine ganz traurige Geschichte. Die hat sich im Sommer 1982 hier im Wald an ein Hochsitz erhängt. Die war erst 25 Jahre alt. Das war schrecklich. Vier Tage vorher hatte sich auch der ihr Freund umgebracht. Der war aus dem Nachbardorf, aus Uetterath. Der Freund hieß zwar Robert, aber die ganze Geschichte wurde von der Lokalpresse ‚Romeo und Julia‘ genannt, wegen weil die ineinander drin verliebt waren und aus zwei verschiedene Dörfer kamen. Weil in dem berühmten Roman von diesem William Dingsbums, da war ja auch ein Pärchen am pussieren.“
„Ja, ja, richtig. ‚Romeo und Julia‘“, erinnerte sich Marlene. „Das war damals wochenlang das große Thema hier. Will, erinnerst du dich auch noch dadran, wie unser alter Pastor damals im Pfarrblättchen geschrieben hat, dass die Julia sich nicht erhängt hat, sondern von der Maskenbär mit ein Lasso eingefangen worden wär?“
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