„Wenn Sie mich mit Gewalt mitnehmen wollen, werde ich Sie verklagen! Ich werde jedem erzählen, dass Sie mich angefasst haben und dass Sie mich vergewaltigt haben!“
Erich war nach der Ankündigung verunsichert, versuchte dennoch irgendwie mit ihr ins Gespräch zu kommen und fragte: „Darf ich wenigstens Ihren Namen wissen? Da können wir uns besser unterhalten.“
„Nein! Und ich will mich nicht unterhalten!“
Erich gab nicht auf: „Sie werden dennoch mit mir mitkommen müssen! Die Strecke ist so lange wie Sie hier sitzen gesperrt. Das heißt, solange wie Sie hier im Gleis sitzen, wird kein Zug fahren. Sie werden keinen Zug küssen können. Stehen Sie bitte auf und kommen Sie bitte ganz einfach mit.“
„Ich bleibe trotzdem hier sitzen! Und nun hauen Sie ab und lassen Sie mich endlich in Ruhe!“
„Ich will Ihnen mal was sagen: Ich habe schon mal eine junge Frau gegen ihren Willen aus dem Gleis geholt. Hinterher war sie mir dankbar.“
„Na, da hat man Ihnen doch mindestens einen Lebensretterorden gegeben. Oder nicht?“
„Nein, das war eher ein Anschiss. Ich habe nicht so gehandelt, wie es sich der Chef vorgestellt hatte.“
„Wenn das so ist, komme ich mit. Ich will nicht, dass Sie wegen mir noch mal bestraft werden.“
Sie hob den Kopf und als Erich ihr Gesicht sah, wusste er, was ihr Schreckliches widerfahren war. Sie stand auf und war bereit, mit den beiden Beamten mitzugehen.
„Wir gehen langsam zum Auto und fahren zur Dienststelle. Dort wartet eine ganz nette Kollegin auf uns. Sie wird sich weiter um Sie kümmern.“
„Darf ich fragen, wie Sie sich fühlen? Ich will damit fragen, ob Sie eventuell einen Arzt brauchen? Wenn ja, dann bringe ich Sie sofort ins Krankenhaus.“
„Es ist alles gut. Mir ist nichts passiert.“
„Können Sie mir was über die Jugendlichen sagen, die Sie hierher gebracht haben? Und wissen Sie zufällig, wo die sich jetzt aufhalten?“
„Nein, kann ich nicht. Mir ist nichts passiert!“
Mit dieser ablehnenden Antwort hatte Erich nicht gerechnet. Aber diese Antwort sagte ihm etwas über ihren psychischen Zustand. Sie konnte die Erlebnisse immer noch nicht verarbeiten. Sie schämte sich und es war ihr peinlich. Sie wollte einfach nicht darüber sprechen. Vielleicht gab sie sich auch selbst die Schuld. Erich fragte nicht weiter, passte aber genau auf, was sie tat. Denn im Notfall musste er handeln. Am Streifenwagen angekommen, wurde ihr ein Sitzplatz zugewiesen und Erich setzte sich neben sie. Dann wurde vom Mehlmann über Funk die Freigabe der Strecke bestätigt. Somit konnte der Zugverkehr wieder rollen und der Streifenwagen fuhr zur Dienststelle nach Nordhausen.
Als der Streifenwagen angekommen war, stand die Oberkommissarin Ritter schon vor der Tür und nahm sich ihrer an.
Befragungen
Erleichtert wurde das Auto in die Garage gefahren und abgestellt. Erich und der Mehlmann hatten sich eine kurze Pause verdient. Danach sollte der Sachverhalt niedergeschrieben werden. Beide hofften, dass im Moment nichts weiter dazwischen kommt. Es sei denn, die Täter werden gesichtet.
Bei der Tasse Kaffee stellte Mehlmann eine Frage: „Du, Erich, hast du dir mal das Mädchen angeguckt?“
„Ja, das hab ich. Die wurde auf brutalste Weise vergewaltigt.“
„Und die verfluchten Täter rennen noch da draußen rum!“ Mit diesem Satz vollendete der Mehlmann Erichs Gedanken.
„Ob sie je wieder einen Mann lieben kann?“
„Ich will es für sie hoffen.“
Nach circa einer Stunde kam Peggy aus ihrem Büro und teilte mit, dass sie mit der jungen Frau ins Krankenhaus fährt. Erich wollte sich als Kraftfahrer zur Verfügung stellen, aber die Oberkommissarin lehnte dankend ab. „Schreibt erstmal euren Sachverhalt. Moto fährt uns. Ach, eins noch: Ich habe ihre Eltern verständigt. Sollten die in der Zwischenzeit kommen, so mögen sie noch einen Moment warten, bis wir wieder da sind.“
„Ich biete ihnen eine Tasse Kaffee an.“
„… und schreibt euch bitte ihre Personalien auf. Die brauche ich noch. Danke.“
Beim Verlassen der Dienststelle, schaute Erich noch mal die junge Frau an und schüttelte mit dem Kopf. Sie tat ihm leid. Das was er sah, konnte oder wollte er nicht beschreiben. Eigentlich sollte ein Polizeibeamter immer über solchen Ereignissen stehen. Er sollte immer cool bleiben und auf keinen Fall solche Schicksale an sich heranlassen. Erich konnte es nicht. Er litt genauso wie die Opfer, durfte es aber nicht zeigen und immer hart zu sich selbst bleiben. Und so eine Tasse Kaffee konnte schon einiges dazu tun, dass man sich ein wenig besser fühlt. Peggy drehte sich noch mal kurz um und gab ihnen den Namen der jungen Frau und die Namen ihrer Eltern.
Und während sich die zwei Beamten an den Computer setzten, um gemeinsam den Sachverhalt niederzuschreiben, klingelte es an der Tür. Erich ging hin und sah ein aufgeregtes Ehepaar. Es konnten nur die Eltern sein.
„Guten Tag, wenn ich richtig liege, sind Sie Herr und Frau Kranhold?“
Die Frau nickte zustimmend. Daraufhin bat Erich sie herein und wies ihnen einen Sitzplatz zu. Dann bat er um die Personalausweise und bot ihnen eine Tasse Kaffee an. Der Kaffee wurde abgelehnt. Aber die Personalausweise wurden ihm wie selbstverständlich ausgehändigt. Während Erich die Personalien aufschrieb, beobachtete er nebenbei die Mutter und den Vater. Die Mutter kämpfte mit den Tränen und der Vater schien wütend zu sein. Beide rissen sich aber zusammen. Nach circa fünf Minuten fragte der Vater nach seiner Tochter und Erich antwortete: „Ihrer Tochter geht es den Umständen entsprechend gut. Sie ist zurzeit mit Frau Ritter im Krankenhaus und sie kommen so schnell wie möglich zurück. Haben Sie bitte noch ein wenig Geduld.“
Der Vater hatte die gewünschte Geduld verloren und schrie los: „Ihr seid doch für die Sicherheit auf der Eisenbahn zuständig? Wo wart ihr, als meine Tochter hier im Bahnhof war? Wo wart ihr, als sie in den Zug gestiegen ist? Wo wart ihr, als Julia aus dem Zug gerissen wurde? Ich kann es euch sagen! Ihr wart nicht da! Anstatt auf dem Bahnsteig zu stehen, habt ihr euch auf der Dienststelle herumgetrieben und habt euch einen Fetten gemacht!“
Erich schluckte und versuchte ruhig zu bleiben. Er hatte es gelernt mit solchen Situationen umzugehen. Der Vater ließ aber nicht locker: „Ich hab euch eine Frage gestellt und erwarte umgehend eine Antwort!“
Erich stand auf und ging auf den Mann zu und sagte: „Ich verstehe Sie. Ich glaube, wenn man das meiner Tochter angetan hätte, wäre ich ebenso wütend wie Sie.“ Erich dachte in dem Moment an seine Tochter Kerstin. Das ließ er sich aber nicht anmerken und redete weiter: „Dennoch müssen Sie sich beruhigen. Wir werden alles Erdenkliche tun, um die Täter zu fassen. Die sollen auf keinen Fall ungeschoren davonkommen.“
Der Mehlmann, der im Nebenzimmer am Computer saß, hatte den Krach mitbekommen und kam ins Zimmer: „Was ist denn hier los?“
Erich beruhigte: „Es ist alles gut. Setz dich bitte wieder hin und schreibe weiter.“
Die Mutter stand auf, umarmte ihren Mann und flüsterte: „Tommi, bleib ruhig. Die Polizisten können nichts dafür. Die sind hier, um uns zu helfen.“ Dieser Satz schien zu wirken. Der Vater beruhigte sich und flüsterte kaum hörbar in den Raum: „Ich bitte um Entschuldigung“, und die Situation war gerettet.
Kurz darauf stand eine Kundenbetreuerin der DB vor der Tür und klingelte. Mehlmann ging hin und machte auf. „Ich sollte mich bei euch melden.“
„Konni, komm rein und setz dich. Es dauert noch ein kleines Weilchen. Dann sind wir für dich da.“ Es war die Kundenbetreuerin, welche im entsprechenden Zug tätig war.
„Ihr wisst schon, dass ich Feierabend habe und dass die Kinder auf mich warten?“
„Ja, jetzt wissen wir das.“
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