DM:Ein Spruch, den ich von meiner früheren amerikanischen Firma mitgenommen habe, ist: Nichts ist so beständig wie die Veränderung. Zum einen ändert sich die Teamzusammensetzung durch Neueinstellungen und Weggänge. Zum anderen ändern sich aber auch die Anforderungen, die man von Kundenseite aus bekommt. In Bezug auf Agilität: Das hat bei mir mit einer schnellen Reaktionsfähigkeit und Fokussierung auf Kunden zu tun. Bei uns ist das so, dass wir unseren Stil dahingehend gefunden haben, dass wir Drei-Wochen-Sprints machen. Wir haben das Ganze mit dem Thema Projektleitung und Projektentwicklung kombiniert. Also eine Art Produktanforderung schreiben und sich um eine grobe Planung Gedanken machen. Dafür mag ich die Methoden von Design Thinking sehr. Darin liegt meiner Auffassung auch das Potenzial: die Leute noch mehr davon zu überzeugen, den Schritt wirklich zu gehen. Es ist wichtig, den Mitarbeitenden klarzumachen, dass der Kundennutzen oben steht und ingenieurtechnische Leistung sehr oft vom Markt nicht gesehen wird.
Was tust du dafür, dass die Teamarbeit harmonisch läuft − auch vor dem Hintergrund, dass Menschen sehr unterschiedlich sein können in ihren Zielen und Interessen?
DM:Konflikte gibt es immer. Die Herausforderung ist eigentlich, den Menschen klarzumachen, dass sie nicht Konflikte scheuen, sondern sie als etwas betrachten sollen, was sie voranbringt. Wenn alle gleich ticken, läufst du in die falsche Richtung. Die Leute müssen unterschiedlich sein, und du brauchst die Konflikte. Konfliktkultur ist eine echte Herausforderung. Schulung und Qualifikation sind wichtig, damit Konflikte schnell erkannt werden. Das Vertrauen muss da sein, dass die anderen Personen im Guten handeln. Wenn sie eine andere Meinung haben, dann machen sie das nicht, weil sie jemandem zeigen wollen, dass er dumm ist, sondern sie machen das, weil sie wirklich überzeugt davon sind, dass das der richtige Weg ist.
Stell dir vor, du bist mit JENETRIC über deine kühnsten Vorstellungen hinaus erfolgreich geworden. Was hat sich seit dem jetzigen Zeitpunkt verändert?
DM:Was ich sehe, ist, dass die Technologie am Markt endlich angekommen ist. Die Produktvielfalt hat sich weiterentwickelt. Durch Corona und damit verbundene Aufwände haben wir das erste Mal ein Produkt mit kontaktlosen Fingerabdruck-Aufnahmen am Markt platziert. Richtig relaxed kann ich allerdings erst dann dasitzen, wenn die Firma schwarze Zahlen schreibt oder erfolgreich verkauft wurde.
Danke, Dirk!
Potenzialentfaltung
Wozu?
Unsere Welt ist durch neues Wissen, neue Technologien und durch die Digitalisierung so komplex und dynamisch geworden, dass hierarchische Strukturen immer weniger für deren Organisation geeignet sind. Eine Hierarchie löst komplizierte Probleme, aber keine komplexen. Das Konzept der Potenzialentfaltung hilft, die gegenwärtigen hierarchisch geprägten Beziehungskulturen in Arbeits- und Lebenswelten zu transformieren und bietet Alternativen zu Zielvorgaben und Anordnungen. Der Mensch wird als Potenzial und nicht als Ressource betrachtet (Hüther, 2019). Das Konzept zeigt auf, wie die Mitglieder eines Teams sich wechselseitig ermutigen und inspirieren können − und somit die Gemeinschaft stärken. Jeder kann als selbstbestimmter und eigenverantwortlicher Mitgestalter aus eigenem Antrieb deutlich mehr einbringen als bisher (Hüther, 2020).
Vom Objekt zum Subjekt.Aus unserer Entwicklungshistorie heraus leben und arbeiten wir mehrheitlich in hierarchisch geprägten Systemen. Erfolg wird bevorzugt mit Einzelkämpfern, deren Vision und Durchsetzungskraft verbunden und dort auch honoriert. Der Fehler aber besteht darin, dass der Versuch befördert wird, seine eigenen Interessen auf Kosten anderer durchzusetzen. Ausnutzen durch Überreden mithilfe angedeuteter Belohnung oder Versprechung bzw. durch Sanktionsandrohung oder Anordnungen ist normalisierte Praxis. Im ergebnisorientierten Wirtschaftsdenken ist Erfolg mit dem Erreichen von Zielvorgaben, mit Abhängigkeiten und Bewertungen verknüpft. Die Mitarbeiter in einer Organisation fügen sich in ihre vorgegebenen Funktionen ein; sie werden zum Objekt der Zielerfüllung gemacht, zum Spielball anderer − oder sie machen sich in Selbstausbeutung selbst dazu (Hüther, 2019). Eine Potenzialentfaltung ist jedoch nur in selbstbestimmten Subjekten möglich.
Hirnforschung.In den letzten 30 Jahren haben sich die Erkenntnisse über die Hirnentwicklung substanziell weiterentwickelt. Die wesentlichen Erkenntnisse fasst Gerald Hüther so zusammen: Das Gehirn strukturiert sich anhand der gemachten Erfahrungen selbst (Hüther, 2019). Werden wiederholt ähnliche Erfahrungen gemacht oder antrainiert, entstehen im Hirn die „großen Autobahnen“ unserer Denkmuster und Prägungen; auch für unser Verhalten in Bezug auf negative Erfahrungen. Werden andere Bereiche nicht gefördert, bleiben diese unterentwickelt. Eine Plastizität des Gehirns ist jedoch lebenslang gegeben; also können neue Verschaltungen in jedem Alter durch neues Lernen oder andere positive Erfahrungen initiiert und die alten Autobahnen durch alternative Wege ergänzt werden.
Das erfolgreiche Umsetzen eines Bedürfnisses wird neuronal mit einem euphorischen Gefühl belohnt − es verstärkt innere Handlungsimpulse und erzeugt Lust, dort weiterzumachen, wo bereits etwas aus eigener Anstrengung gelungen ist. Eine selbstbestimmte Lösungsfindung als handelndes Subjekt erzeugt Begeisterung und Freude. Freigesetzte Botenstoffe regen den Ausbau der Nervenzellverknüpfungen an, in deren Folge wir immer schneller werden. Hüther (2018) bezeichnet Begeisterung als „Dünger für das Gehirn.“ Das Lernen erfolgt am besten durch Interaktion mit und Inspiration durch andere, weil sich hier viel mehr Varianten des Erkundens von Möglichkeiten und des Denkens ergeben.
Bedürfnis nach Kohärenz.Das Gehirn ist unser Organ, das die meiste Energie verbraucht − durch Lernen, Denken und Problemlösen. Eine Komplexitätsreduktion ermöglicht ihm, Energie einzusparen, z. B. durch Verdrängen, Ablenkung, Verleugnen, Weghören, letztlich durch Musterbildung zur Steuerung einer Vielzahl an Einzelaktivitäten. Wir bevorzugen die Nutzung bekannter Denk-Au-tobahnen, denn unsere inneren Einstellungen und Haltungen, unser Denken, Handeln, unser Selbstbild und unsere Umwelt sollen möglichst zueinander passen und wenig Energie für die Erlangung dieser bestmöglichen Passfähigkeit, also von Kohärenz, einfordern. Werden Veränderungen oder komplexe Aufgaben, Vorgaben und Anordnungen an uns herangetragen und sie passen nicht zum bisherigen Kohärenzgefühl, kostet der Umgang damit viel Energie und stresst. Das Hirn sucht nach einem neuen Kohärenzgefühl. Das kann durch Abwehr und Widerstand gegen Veränderung mit Festhalten am Alten, durch ein Sich-Fügen in die Veränderung, oder − und das entspricht unserem Selbstverwirklichungsdrang am besten − durch aktive Mitgestaltung und dem eigenen Wiederfinden in der anstehenden Veränderung hergestellt werden.
Würde.Als soziale Wesen wollen wir dazugehören: zu einer Gemeinschaft, einer Bewegung, einer Idee, einer Vision. Weiterhin wollen wir die eigene Selbstwirksamkeit im autonomen Handeln erfahren. Wir wollen Gestalter des eigenen Lebens sein. Erst wenn wir für etwas brennen, laufen wir zur Höchstform auf. Im Arbeitsalltag aber wird häufig eines oder beide der Grundbedürfnisse verletzt. Wir werden zu Objekten für Funktions- und Zielerfüllung gemacht − und auf diese Weise in unserer Würde verletzt (Hüther, 2019).
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