Bei so viel Quatsch kann nicht mal Lothar lachen. Vom Kulissenschieber zum Starregisseur, ich sehe schon die Schlagzeilen.
Vielleicht im Neuen Deutschland ! Lothar schüttelt den Kopf. Du hast sie ja nicht mehr alle.
Warum denn nicht, verteidigt sich Micha Schüller. Der Hans ist wirklich gut.
Ob gut oder nicht, wer will das schon einschätzen. Die Texte hat er nur im Wiener Café vortragen können, in Auszügen versteht sich. Und manchmal bei diesen Lesungen auf irgendeinem Dachboden oder bei den Treffen der Freunde. Nein, eigentlich müsste Hülsmann Theater machen, aber das ist ja auch nicht so einfach. Ein Studium! Wo denkt ihr hin? Die Bedingungen, die … naja, das muss wohl nicht weiter erklärt werden. Das weiß ja jedes Kind. Und jetzt kann er erst recht alles vergessen.
Wenn die einen erst mal auf den Kieker haben …, Schüller weiß Bescheid.
Lothar nickt. Nun musst du doch nicht alles schwarzmalen. Kopf hoch Hülsmann!
Wir haben auch nicht studiert und siehst ja, was aus uns geworden ist. Dabei schlagen sich Micha und Lothar gegenseitig auf die Schultern.
Eben, sagt Angie. Schaut euch mal an.
Aber die beiden können nichts an sich erkennen. Egal wie lange sie sich mustern. Wird eben nicht besser.
Also dann lieber noch ein Bier von Angie, die vorher noch dem alten Chef in der Ecke ein neues Kännchen Kaffee auf den Tisch stellt.
Und vielleicht ist das schon genug, eine freundliche Bedienung in einem Land, das so unfreundliche Maßnahmen kennt. Noch dazu von Angie, deren Reize selbst dem Hülsmann nicht verborgen bleiben. Dabei geht der Kopf jetzt über von quälenden Gedanken.
Also, dann vielleicht doch noch ein Berliner. Und ein Korn kann ja auch nicht schaden.
Kreuzberger Nächte sind lang … so singen sie, dass sich der Lärm im Haus sammelt und die Treppen hinabläuft. Dabei ist die Tür im dritten Stock bei Frenzels noch geschlossen. Aber so heißen sie erst seit heute. Genauer – nach dem Besuch im Standesamt, Herr und Frau Frenzel, geborene Nusselbeck.
Kann man gut verstehen, dass die Nusselbeck nicht mit der Hochzeit warten wollte, sagt Ottmar Graustock, der auf den Treppenflur getreten ist. Bei dem Namen. Dabei lehnt sich der junge Mann mit seinem altmodischen schwarzen Anzug, den er selbst beim Kohlenholen trägt, an den Türrahmen.
Aber das ist noch lange kein Grund, uns die Nacht zu rauben, schimpft Getschmar, der gerade die Treppe hinaufkommt und wohl ahnt, was passieren kann. Sein dünnes graues Haar hat er über der faltigen Stirn ordentlich zur Seite gescheitelt. Wie immer, wenn er von der Arbeit kommt, trägt er eine braune Aktenledertasche. Getschmar ist Leiter. Volksbildungsabteilung des Bezirksamtes Berlin-Prenzlauer Berg. Und das ist schon was, wenngleich nicht alles! In der Gethsemanestraße 5 führt er noch das Hausbuch und ist Vorsitzender der Hausgemeinschaftsleitung. Und damit ist er wichtig. Sehr wichtig sogar, auch wenn Genosse Getschmar, darauf angesprochen immer abwehrt. Nein, nein, das ist nur meine Pflicht. Ehrenamtlich, versteht sich.
Natürlich, Herr Getschmar, Sie tun nur Ihre Pflicht!
Seine Pflicht ist auch der Hinweis auf die mögliche Beeinträchtigung der nächtlichen Ruhe. Und das mit hellseherischer Fähigkeit, wie auch sonst: Ich seh schon kommen, dass man heute Nacht kein Auge zumachen kann. Wäre ja nicht das erste Mal.
Sondern?, fragt Graustock interessiert. Der junge Mann ist erst vor einigen Wochen aus diesem Drehna aus der Niederlausitz in das alte Berliner Mietshaus gezogen.
Getschmar stellt die Aktentasche auf den Boden. Dann zieht er die Hosen an den Gürtelschnallen hoch und macht ein vielsagendes Gesicht. Die dritte Hochzeit Frenzels, flüstert er. Und das in nicht mal zehn Jahren.
Graustock scheint es nicht zu erschrecken, nur die hellen großen Augen kneift er hinter der Nickelbrille zusammen. Mehr nicht.
Naja, sagt Getschmar, als ahnt er schon, dass dem jungen Mann dies alles nichts bedeutet. Was weiß der schon? Aber das sagt er nicht. Lieber schaut er in das schmale blasse Gesicht von Graustock und denkt sich seinen Teil.
Nun, die Nusselbeck hat er ja schon drei Jahre, führt Getschmar jetzt doch aus, ist ja gleich mit eingezogen. Aber der Junge, der ist aus seiner ersten Ehe. Ziemlich deformiert, wenn Sie verstehen. Kein Wunder, den muss man sich bloß anschauen.
Aus der ersten Ehe?, fragt Graustock interessiert, woher wissen Sie das alles.
Ja! Getschmars rechter Zeigefinger geht in die Höhe. Dafür hat man eben ordentlich geführte Hausbücher! Von wegen, mir kann man da nichts vormachen. Gar nichts, wenn Sie verstehn.
Graustock bleibt nichts anderes übrig.
Aber was dann aus diesen Menschen wird, tja … Getschmar schüttelt den Kopf. Sieht man ja, rote Haare und die, na wie soll ich sagen, wie bei einem Indianer …
Irokesenschnitt, verbessert der junge Graustock.
Genau so!, ruft Getschmar. Irokese und das mitten im Prenzlauer Berg. Hauptstadt der DDR. Hat wohl zu viele Indianerfilme gesehen, mit Gojko Mitić oder wie der heißt. Dabei geht sein Kopf jetzt auf und ab. Dann lehnt er sich zu Graustock hinüber und flüstert: Aber vielleicht bekommt der auch noch ganz andere Sachen zu sehen. Bei den Eltern würde mich das nicht wundern! Getschmar schaut sich ängstlich um. Doch im Treppenhaus ist niemand. Also fährt er fort: Nein, der Bursche war schon sechs Jahre alt, als die in das Haus zogen. Frenzels erste Frau hab ich selbst nicht gekannt und im Hausbuch war die auch nicht eingetragen. Aber das ist ja alles modern heute, nicht wahr?
Eine Antwort muss Graustock nicht geben, denn in diesem Moment springt im dritten Stock die Tür auf. Die Hochzeitsgäste treten singend auf den Treppenflur. Frenzel selbst, ein gutmütiger rundlicher Mittdreißiger, führt die Polonaise an. Seine neue Frau, eine etwas kräftige Dame mit frisch gefärbten blonden Locken, eine Freundin und der halbwüchsige Sohn mit dem Irokesenschnitt folgen. Im Entenmarsch, die Hände dem jeweiligen Vordermann auf die Schultern gelegt, kommen die Hochzeitsgäste polternd und lärmend die Holztreppe hinab: Wir ziehen los, mit ganz großen Schritten und …
Getschmar schüttelt den Kopf und fasst die braune Aktentasche fester.
Als Frenzel, noch immer an der Spitze des Zuges, eine halbe Treppe tiefer Getschmar erblickt, stockt er. Aber ein kurzer Stoß von hinten treibt ihn wieder an. So also geht es lärmend weiter.
Gratuliere zur Eheschließung, ruft Getschmar seinerseits mit hochrotem Kopf und drückt sich an die Hauswand.
Frenzels Dank geht im Refrain unter.
Machen Sie doch mit, Herr Getschmar!, ruft die Nusselbeck alias Frenzel mit schwerer Zunge und weist mit einer Handbewegung auf das Ende des kurzen Zuges. Sind doch sonst so fürs Kollektiv … Und das andere, darüber wollen wir lieber nicht reden …
Frenzel zischt die Braut an und macht ein böses Gesicht.
Nein, lassen Sie mal, wehrt Getschmar ab. Vielleicht macht der Graustock mit, der ist jung und gut gebaut.
Doch Ottmar Graustock ist längst hinter seiner Wohnungstür verschwunden.
Einreihen, rufen jetzt die Gäste im Chor, sodass Getschmar verlegen lächelt.
Nun kommen Sie schon, lallt eine andere Frau und schiebt Getschmar in die Schlange. Brauchen doch keine Extrawurst!
Getschmar tritt der Schweiß auf die Stirn. Doch da ist er schon eingereiht, auch wenn er nur eine Hand auf die Schulter von Frau Frenzel, geborene Nusselbeck, legen kann, weil er mit der anderen die braune Aktentasche hält.
So ziehen die Gäste weiter, … mit ganz großen Schritten, und Erwin fasst … hinunter bis in den Hausflur, wo sie aufpassen müssen, weil doch der alte Löffler aus dem Erdgeschoss seine leeren Schnapsflaschen immer in den Gang stellt, dann auf den Hinterhof, wo sie zwei Bögen um die rostigen Wäschestangen und die verbeulten Mülleimer drehen. Ja da kommt Freude auf!, singen sie und jauchzen vor Vergnügen.
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