Ich weiß doch wirklich nicht, versucht Hans Hülsmann noch einmal seine Unschuld zu beteuern. Dabei gibt er sich alle Mühe.
Wissen Sie, was ich an Ihrer Stelle machen würde, unterbricht der Glatzkopf und lehnt sich über den Schreibtisch.
Hans Hülsmann schüttelt den Kopf.
Ich würde schön ruhig sein und auspacken. Alles, verstehen Sie, alles!
Aber, … stottert Hülsmann.
Ich sehe, sagt der Mann, das hat keinen Zweck mit Ihnen. Naja, so können wir Ihnen auch nicht helfen. Helfen, sagt er wirklich. Hülsmann merkt sich diesen Satz genau.
Der Mann setzt sich wieder hinter den Schreibtisch. Das Kissen hatte er vorher unauffällig aufgehoben. Das, und dabei nickt der Mann, haben Sie sich alles selbst zuzuschreiben … Aber was, wirft jetzt Hülsmann laut ein. Was? Sie kommen sich wohl sehr wichtig vor Hülsmann, was? Der Glatzkopf lacht. Aber nichts für ungut. Sie werden es noch rechtzeitig zu spüren bekommen. Dabei füllt er einen Zettel aus. Und ich bin sicher, Sie denken an diesen Tag. Ich würde es auch an Ihrer Stelle. Den Tag sollten Sie nicht vergessen!
Hülsmann würde solche Tage auch so nicht vergessen. Er braucht keine Erinnerung. Denn Hülsmann hat ja sein Büchlein. Hier wird auch dieser Tag seine Erwähnung finden. Und Sätze wie: Dann können wir Ihnen auch nicht helfen. Oder: Das haben Sie sich alles selbst zuzuschreiben! Sätze, die keiner Erklärung bedürfen. Schreiben gegen das Vergessen, nennt das Hülsmann.
Also, sagt der Mann und lehnt sich über den Schreibtisch. Dabei streift die Spitze des braunen Binders über die Tischplatte. Ab sofort halten Sie sich zu unserer Verfügung. Was das heißt, muss ich Ihnen nicht erklären, die Stadt jedenfalls verlassen Sie nur noch nach unserer Genehmigung. Ich würde Ihnen raten, sich danach zu richten. Wenn nicht, dann müssen Sie mit Konsequenzen rechnen! Ich jedenfalls habe Sie gewarnt.
Hülsmann spürt einen eisernen Handgriff um seinen Oberarm.
Kommen Sie, sagt die ernste Stimme hinter ihm. Dabei wird der Griff noch fester.
Dem Druck folgend, steht Hülsmann auf. Er will etwas sagen. Aber er kann nicht. Als sie im Gang stehen und die Tür sich schließt, löst sich der Griff um seinen Oberarm.
Wer war das?, will Hülsmann wissen.
Kommen Sie, sagt der Mann und schiebt Hans Hülsmann durch den langen Gang.
Also dann doch Luftikus , Pappelallee 80. Und das direkt vom Verhör. Der Tisch in der hinteren Ecke muss es schon sein. Und ein Bier oder zwei und natürlich Angie und Schieber Micha und der lange Lothar. Auch wenn der Hülsmann jetzt gern allein wäre. Schon weil ihn die Frage nach der Schuld quält. Was also ist Schuld?
Aber Hülsmann findet keine Antwort. Nicht jetzt, wo alles noch so frisch ist. Und er nur ahnen kann. Aber das hilft auch nicht weiter.
So sitzt er da, der Hülsmann, mit seiner schweren Zimmermannskluft, die am Kragen schon glänzt, obgleich er gar kein Zimmermann ist, sondern nur ein Kulissenschieber. Vor sich das angefangene Bier und die ausgefranste, fast vergilbte graugelbe Tischdecke. Darauf ein paar alte Brandflecken und der grünweiße Bierdeckel.
Umgeben von diesem Geruch, diesem typischen Modergeruch des Luftikus .
Wenigstens was Vertrautes.
Nur Katharina, die Freundin, ist nicht da. Auch nicht der Ottmar Graustock aus seinem Haus. Der, der eigentlich für alle irdische Trübsal zuständig ist. Schließlich ist der junge Mann mit der runden Nickelbrille auf dem besten Weg, Pfarrer zu werden, oder soll man gleich Seelsorger sagen? Aber nein, heute ist nicht mal der da. Dabei wäre es notwendig.
Hülsmann also, dort in der Luftikusecke. Sitzt da wie das Leiden Christi. Und das ohne kirchlichen Beistand. Hätte ja auch ins Wiener Café gehen können. Ins WC wie die Leute abkürzen. Da wo diese Intellektuellen immer sitzen und die Welt verbessern wollen. So sagt es auch Angie. Dort hätten auch die Vertrauten auf ihn gewartet. Der Ottmar und die Katharina und vielleicht noch der Reinhard Voss, auch ein Bewohner aus der Gethsemane. Aber nein, nach diesem Besuch in der Volkspolizeiinspektion ist dem Hülsmann nicht mehr nach Weltverbesserung bei gepflegtem Rotwein und auch nicht nach neuer Prenzelberg-Lyrik zwischen Rauchschwaden und schönen Frauen. Und Theater hat er eh selbst genug. Da braucht es kein WC.
Und schon gar nicht braucht er das Rampenlicht. Das grelle Licht quälender Fragen, die auch er nicht beantworten kann. Warum?, wäre so eine Frage. Und Hülsmann sieht schon die Mutmaßungen, die wie Kraut in den Himmel schießen. Die Literatur, die haben Angst vor der Literatur! Überleg doch mal! Die Gedichte, nein, die hättest du nicht vortragen dürfen! Oder gar jenes Theaterstück mit diesen fragwürdigen Helden! Kann ja sein, dass es wahr ist mit diesem Musiker, der in den Westen verkauft wurde, während seine Frau mit dem Kind im Osten ihn nicht sehen kann, weil er nicht herein und sie nicht raus darf. Kann alles sein, aber muss man das auch öffentlich machen? Manche Sachen schreibt man besser für den Schreibtisch!
Aber diese Künstler können die Tinte nicht halten oder die Noten.
Oder haben den falschen Umgang. Ja, der Umgang, das sind die falschen Leute, jedenfalls für die da oben, du solltest dich vorsehen! Kirchenleute noch dazu stellen ja alles infrage, Menschen und ganze Staaten, das kann nicht gut gehen. Niemals!
Hülsmann hätte sich die Ohren zugehalten und nichts hören wollen. Und doch wären sie wieder da, die Stimmen: Also mal ehrlich, hast du uns was vorenthalten? Was verborgen? Vielleicht doch so einen Antrag gestellt, um das Land zu verlassen? Ist ja nicht schlimm, macht ja hier fast jeder, aber reden solltest du wenigstens mit uns! Wenigstens das!
Nein, auf all diese Fragen und gut gemeinten Hinweise hatte Hülsmann keine Lust. Die Welt erklärt sich manchmal einfach nicht. Schon gar nicht an einem solchen Tag, der besser still enden sollte oder eben in dieser anderen zeitlosen Welt eines Luftikus . Ohne die große Literatur und ohne die noch größere Politik.
Ja, das Luftikus ist ihm irgendwie näher, vertrauter, trotz Freddy Quinn, der Musikbox und dem Schiff, das nach Hongkong fährt:
Fährt ein weißes Schiff nach Hongkong.
Hab ich Sehnsucht nach der Ferne.
Aber dann in weiter Ferne.
Hab ich Sehnsucht nach zu Haus.
Das Luftikus möchte sich verstecken. So wie er sich selbst verstecken möchte vor den Augen der Welt. Vor den Fragen, die er nicht beantworten kann und die er, selbst wenn er sie beantworten könnte, nicht beantworten will.
Also dann nicht in die eitle Schönhauser mit den vielen Geschäften, sondern in die Pappel und dann ins Luftikus . Wenn man seine Ruhe haben will, ist es besser. Aber Ruhe ist ja auch übertrieben.
Machst ja ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter, bemerkt jetzt Angie und schaut betroffen mit den großen braunen Augen.
Hülsmann zuckt nur mit den Schultern. Was soll er auch sagen. Jetzt wo er eine Auflage hat und die Stadt nur nach Genehmigung verlassen darf. Dabei hat er dem Ottmar versprochen, an einem der nächsten Wochenenden mit nach Drehna zu fahren, dort in die Niederlausitz, wo Ottmars Vater eine Pfarrstelle bekleidet. Und er hatte sich gefreut, auf die Gegend und die Leute und einigen neuen Stoff für ein Theaterstück, an dem er jetzt schreibt. Aber das kann er nun wohl vergessen.
Das Theater doch auch, sagt Lothar, der, würde er nicht an der Volksbühne Elektriker sein, ein Theater noch nie von innen gesehen hätte. Schreibst doch ohnehin nur für die Schublade. Das machen im Kiez doch alle.
Naja, die Bemerkung hätte sich der lange Lothar verkneifen können. Also muss der dicke Schüller ran. Auch der hat keine Ahnung von Literatur und Theater. Aber immerhin hat er ein tröstendes Wort. Auch wenn er selbst nicht daran glaubt. Irgendwann, sagt er, dann werden sie dich schon spielen. Vielleicht in der Volksbühne.
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