Und das ist dann fast der Höhepunkt. Es sei denn, Angie kommt vorbei und hinterlässt den Duft eines unbekannten Parfüms. Und dieser Duft mischt sich mit dem Geruch nach Verwesung. Der Tod könnte süßer nicht sein.
Kein Wunder, wenn einige der Gäste die Augen schließen. Und dabei das Luftikus verlassen, auf dem Weg ins Paradies.
Da muss dann schon der Wirt selbst eingreifen. Von wegen Umsatz und so. Oder eine der Damen.
Hört auf zu träumen, ertönt auch schon eine kräftige Frauenstimme. Wobei die Dame wohl ahnt, keinen Platz in dem Männertraum zu finden.
So gehen die Augen wieder auf. Nicht im Paradies, sondern im Luftikus . Und dann ist sie schon da in ihrer ganzen Fülle. Gerda. Zu bieten hat auch sie was. Breite kräftige Arme, die sie quer über den Tisch legt und ein pausbäckiges rundes Gesicht, in das eine schwere Brille rutscht. Also meine Herren!
Gut. Dann eben Gerda. Frauen sind im Luftikus ohnehin rar.
Und Gerda ist zufrieden, trotz Konkurrenz. Muss ja nicht immer gleich ein Schieber sein oder gar ein Fleischermeister. Nach ein paar Doppelten sehen die Männer eh alle gleich aus.
Der feuchten Wand hilft kein Doppelter. Sie kann ja nicht mal eine Tapete tragen! So haben es die Maler nach einer ausgiebigen Untersuchung festgestellt und es gar nicht mehr versucht. Den Tapetenkleister haben sie lieber gegen ein paar Frischpils vom Tresen und einem sensationellen Augenaufschlag von Angie getauscht.
Vor die Wand schiebt man besser die Musikbox. Dann sieht man den Schimmel nicht mehr.
Also muss die Box wieder her und Elvis oder besser gleich Freddy Quinn. Den versteht man wenigstens. Und er ist Stammkunde, so wie die meisten hier. Jedenfalls akustisch. La Paloma ohé und so. Ach wie schön!
La Paloma, ohé, einmal müssen wir geh’n
,einmal schlägt uns die Stunde der Trennung.
Einmal komm ich zurück.
Ins Luftikus kommt man immer zurück. Womit wir dann wieder beim Tanz sind. Samstagabend oder Freitag, wie gehabt. Aber immer nur dann, wenn sich jemand findet, die Box mit einer Münze zu bestücken und den Tanz eröffnet. Oft ist allerdings das Klappern des Ventilators über dem Eingang lauter als die Musikbox. Da wissen die Tanzpaare dann nicht, ob sie nach Platte oder Ventilator tanzen. Aber auch das ist egal.
Wenigstens es dreht sich, sagen die Gäste.
Angie hat dann Mühe, das Lokal wieder zum Stehen zu bringen, denn auch ihr wird ganz schwindlig.
Noch eine Trommel Pils und die Kurzen nicht vergessen! So geht das in einer Tour. Immer und immer wieder. Nicht mal der dicke Wirt hinter dem Tresen hat dann was zu lachen. Aber warum sollte er auch, ist ja nicht zum Vergnügen da.
Vier Schritte vor, vier Schritte zurück. Mehr kann der junge Mann nicht gehen. Dann nimmt er auf einem der knarrenden Holzstühle Platz und schaut zum Generalsekretär auf. Der lächelt, wie er immer lächelt. Erstarrt und künstlich.
Mein Dorian Gray, denkt Hülsmann. Denn auch der Generalsekretär wird nicht älter. Seit Jahren lächelt er von den Wänden der Republik. Die Zeit hat ihm nicht eine einzige Falte angehangen. Dabei ist er noch älter als Hülsmanns Großvater.
Der Großvater kann vom ewigen Leben nur träumen. In einem Pflegeheim in Templin, Uckermark, ringt er täglich mit dem Tod. Es gibt kaum Hoffnung, sagen die Ärzte. Vielleicht noch ein paar Monate. Das Leben ist eben endlich.
Endlich! Endlich ist auch der Warteraum. Hans Hülsmann geht wieder vier Schritte. Vier Schritte nach vorn, vier Schritte zurück.
Hülsmann ist Künstler. Auch wenn er sich so gar nicht sieht. Denn eigentlich ist er Kulissenschieber oder Theaterhandwerker, wie es offiziell heißt. Volksbühne, altes ehrwürdiges Haus.
Hülsmann liebt das Theater. Vielleicht weil er darin die Welt erblickt. Das große Welttheater, sagt er, ist wie ein Buch. Hülsmann ist der Leser dieses dicken Buches, still und unaufgeregt. Fast ein wenig abgeklärt für seine achtundzwanzig Jahre. Auf jeden Fall hat der den Frieden mit sich gefunden, weiß schon der Lothar zu berichten. So wie der auf die Welt schaut, mit diesem verklärten Blick.
Den Frieden hat Hülsmann weniger dem verklärten Blick zu verdanken als zwei anderen Dingen. Einem Zaubermantel und einem Buch aus braunem Schweinsleder, das er unter der Weste trägt. Der Mantel hängt an der heimischen Garderobe und kann unsichtbar machen. Eine Eigenschaft, die in schlechten Zeiten ihr Gold wert ist. Was natürlich auf der Hand liegt. Und dennoch nicht vergessen werden soll.
Mystisch ist es in jedem Fall. Fast wie im Märchen, mit Feen, Einhörnern, Zauberstäben, Hexen und magischen Steinen. Jedenfalls glaubt das Ottmar Graustock, und der könnte es ja wissen. Nicht nur weil er Hülsmanns Freund und Nachbar im Haus Gethsemanestraße 5 ist. Nein, der Graustock studiert immerhin Theologie und das will was heißen in einer Welt, in der zwar Generalsekretäre nicht altern, aber ansonsten Gott für tot gehalten wird. Aber das ist eine andere Geschichte.
Das Buch ist Hülsmanns Heiligtum. Das liegt wohl an den handgeschriebenen Texten. Randglossen der Ewigkeit, sagt Hülsmann. Oder noch komplizierter: Parerga und Paralipomena.
Ein komischer Kauz eben, der Hülsmann, sagt auch Schüller, aber wer ist das nicht, wenn er im Prenzlauer Berg lebt mit seinen heruntergekommenen Mietskasernen, Kulissen an einem Theater schiebt und hofft, selbst einmal das große Theaterrad zu drehen. Vielleicht als Autor oder gar als Regisseur. Aber dazu muss man eben studieren. Und zum Studieren sollte man besser keine Vorladung zur Volkspolizeiinspektion haben. Das gibt immer Ärger. Und jetzt hat er den Ärger, der Hülsmann.
Noch also sitzt er da in der Schönhauser Allee 22, in diesem Warteraum, und macht sich Gedanken über das Warten. Denn, so denkt Hülsmann, der Warteraum ist eigentlich ein Raum, in dem man gar nicht warten kann, weil die Zeit hier stillsteht. Damit aber widerspricht die Zeit der Form des Wartens, die eine Verlaufsform wäre. Denn sie ist es, die eigentlich vergehen soll, damit das Warten zum Warten wird und das Warten ein Ende hat.
Typisch Hülsmann, würde jetzt der Graustock sagen, so ein verdrehtes Denken. So typisch wie sein Aufzug, der auch etwas von Theater hat. Ein schwarzer altmodischer Zimmermannsanzug mit Weste und Perlmuttknöpfen. Ein Erbstück vom Großvater. Genauso wie die alte Sprungdeckeluhr, die an einer Kette hängt und aus einer Westentasche herausschaut. Dazu das kragenlose weiße Leinenhemd und der schwarze Hut mit breiter Krempe. Ein Kerl wie ein wandernder Geselle, den das letzte Jahrhundert vergessen hat.
Aber Hülsmann hat keiner vergessen, auch die Volkspolizei vergisst solch merkwürdige Gestalten nicht. Und auch nicht die anderen Leute, die zwar alle unter Volkspolizei firmieren, aber keine Uniform tragen. Für wen die arbeiten, muss man nicht raten.
Ist ja selbst dran schuld, sagen die Leute, wenn er so merkwürdig ausschaut. Da stimmt da oben was nicht. Dabei tippen sich die Leute mit dem rechten oder linken Zeigefinger an die Stirn.
Allein dieser Aufzug macht ihn verdächtig. Und dann sind da noch das schwarze schulterlange Haar und die verkniffenen kleinen Augen, die immer hinter die Dinge schauen.
Der Hülsmannsche Röntgenblick, sagt Graustock. Typisch.
Ausgerechnet Hülsmann, der manchmal sagt, was er besser für sich behalten sollte, dann aber wieder alles verheimlicht und jede Bewertung offen lässt. Oder in sein Büchlein trägt, für sich, versteht sich.
Diese Art Geheimniskrämerei gefällt nicht jedem. Dorian Gray zum Beispiel hätte keine Freude an dem Versteckspiel. Wo kommen wir denn da auch hin?
Also noch einmal, vier Schritte vor und vier Schritte zurück. Die Schritte hallen jetzt so laut, als wollten sie zur Decke hinaufschreien. Aber in diesen Räumen schreien nicht mal die Schritte. Die Angst liegt wie ein Tuch über den Lauten und Tönen, sie kriecht in die Kehlen und macht die Münder stumm.
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