„Das ist eine Wanderbaustelle. Heute Mittag fing es an.“
Irene Schneider bezog ihre Informationen aus dem Lehrerzimmer, ein überaus zuverlässiger Ort, wenn es darum ging, über die aktuellen Entwicklungen in Bardorf auf dem Laufenden zu sein. Seit den letzten Landtagswahlen hatten die Bardorfer keinen Vertreter mehr in der Landesregierung, weder im Kabinett noch auf der Ebene der Staatssekretäre. Das hatte es seit Einführung der Neuen Geschäftsgrundlagen nicht mehr gegeben, und entsprechend misstrauisch verfolgten die Einwohner die politischen Entscheidungen jenseits der Brücke, vor allem seitdem bekannt geworden war, dass der Verkehrsminister auf die andere Seite der Stadt gezogen war, ein Zugewanderter, der dem bislang wenig beachteten Süden den Vorzug gegeben hatte. Es war klar, dass seitdem jedes Bardorfer Schlagloch als politischer Misstrauensantrag derer da im Süden gewertet wurde, und dass die Menschen wohl informiert waren über Wanderbaustellen, Geschwindigkeitsbegrenzungen, Markierungs- oder Mäharbeiten. Und weil die Bardorfer Schule nicht nur mehrere Generationen verband, sondern auch Eltern aus Politik und Landesverwaltung, war die Schule jener Ort, wo alle Informationen zusammenliefen und erst in der Summe ihre glasklare Faktizität erfuhren.
„Wanderbaustelle.“
Frank Schneider wiederholte das Wort wie einen pathologischen Befund. Da saß er bereits am Tisch, den seine Frau liebevoll dekoriert hatte. Mehrere große, grüne Strünke, deren gelbe Dolden irgendwie nach Benzin rochen, versperrten den Blick auf die Schüsseln.
„Ich dachte, wir feiern heute mal diesen schönen Maitag.“
Irene Schneider griff nach dem Teller ihres Gatten, bevor der etwas sagen konnte, und schaufelte zwei Kellen einer grünen Menge auf, die Frank Schneider nach grober Begutachtung für eine Form von Spinat hielt. Dazu gab es, wie häufig im Hause Schneider, rohe geviertelte Champignons, von denen seine Frau der festen Überzeugung war, sie würden wertvolle Spurenelemente enthalten.
Es war aber kein Spinat. Die grünen Blätter schmeckten so chemisch, wie die gelben Blütenstrünke auf dem Tisch chemisch rochen. Da fiel Frank Schneider ein, warum er sich an eine Tankstelle erinnert fühlte. Sie aßen Rapsblätter.
„Mit Pinienkernen“, setzte seine Frau hinzu und Frank Schneider war froh, dass es sich nicht um frittierte Mehlwürmer handelte.
Silvia Raschke spreizte ihre Finger, ließ sie für einen Moment über der Tastatur schweben, dann schrieb sie los:
Flacher Bauch, straffer Po, vorstehende Brüste, das ist der Grund für meine hochhackigen Schuhe. Leider nur hätte ich vorher üben sollen. Jetzt stehe ich vor dem großen schmiedeeisernen Tor und drücke auf den Klingelknopf. Ganz in der Ferne höre ich ein Geräusch, das mich auf eine merkwürdige Weise berührt, wie ein sanftes Ziehen im Schoß. Das Gefühl kenne ich nur zu gut. Endlich höre ich die Schritte auf dem Kies. Eine schlanke blonde Frau, etwas jünger als ich, bewegt sich gemessenen Schrittes auf mich zu. Was gäbe ich darum, so selbstsicher über diese Auffahrt zu schreiten.
– Miss Kilsingstone?
Ihre Stimme klingt kühl, eher feststellend als fragend. Dann öffnet sie das große Tor. Ich betrete
Ti-ti-tatta-ti-ti-ti, wenn Silvia Raschkes Handy so klingelte, meldeten sich die besonders ungestümen Fans ihrer Netzgemeinde, jene, die es geschafft hatten, im Dickicht der Weiterleitungen, Werbebanner, Querverweise und Untermenüs direkt in Kontakt zu ihr zu treten. So viel Hartnäckigkeit nötigte ihr Respekt ab, sodass sie es sich angewöhnt hatte, die Nachricht gleich zu lesen. HullkHorgan, einer der regelmäßig an ihrer Arbeit Anteil nahm, meldete sich jeden Montagabend. Silvia Raschke war also nicht überrascht: hallo black swan. das war wieder eine tolle geschichte mit dem indianer und der entführten sklavin. könntest du nicht mal was über sex im weltraum schreiben. schwerelos in fesseln zum beispiel oder dark sex of the moon. vielen dank, dein fan hullkhorgan.
Silvia Raschke hatte jetzt keine Zeit. Sie schob das Handy zu Seite, spreizte ihre Finger und schrieb dann weiter:
den Kiesweg. Mit den hohen Schuhen spüre ich die Kiesel, ein kleines Ziehen, das meine Beine hinaufläuft. Vor mir wippt der blonde Pferdeschwanz der jungen Frau. Unter ihrem eng anliegenden, beigen Kostüm zeichnen sich keine Umrisse eines BHs ab und auf ihren knielangen Rock folgen perfekte Beine. Ich komme mir jetzt vor wie ein Bauernmädchen. Der Kiesweg scheint endlos zu sein, und ich habe Mühe, mit der Blonden mitzuhalten. Der Weg macht eine Biegung und das Erste, was mir auffällt, ist eine Überwachungskamera. Ich spüre einen leichten Schauer über meinen Rücken streifen, so als würde ich durch einen Nacktscanner laufen. Ich habe den Eindruck, als ob die blonde Frau nun etwas langsamer geworden ist. Soll mich die Kamera etwa länger beobachten? Über den Schlossbesitzer gibt es viele Gerüchte im Dorf. Gesehen haben ihn bislang nur ein paar Jagdhelfer, und die haben so gut wie nichts erzählt. Und dann gibt es da noch diese Andeutungen …
– Folgen Sie mir bitte hier entlang.
Wir gehen nicht die große Eingangstreppe hoch, sondern nehmen einen Seiteneingang, zu dem ein kleinerer Weg zwischen dem Kirschlorbeer führt. Die blonde Frau legt ihre gepflegte Hand auf den Türgriff und blickt mich zum ersten Mal an, als wolle sie mich prüfen. Dann öffnet sie die Tür.
Das Licht im Flur flackerte auf. Um diese Uhrzeit kam eigentlich nur noch selten jemand nach unten in das Archiv und meistens auch nur, um alte Sendekassetten aus dem Umlauf vor die Tür zu stellen, sodass Silvia Raschke sie am nächsten Morgen einsortieren konnte. Einer hatte in den letzten Monaten besonders häufig etwas in ihrem Kellerarchiv geordert, den aber konnte sie nun von der Liste streichen, denn er war tot im Hörfunktrakt gefunden worden. Von der Aufregung hätte sie in ihrem Keller beinahe nichts mitbekommen, wenn sie nicht zufällig auf dem Weg zum Bildarchiv zwei Männer in dunklen Uniformen getroffen hätte, von denen sie zunächst annahm, es handele sich um neue Mitarbeiter des Wachschutzes, bis sie auf den Jacken den Firmennamen las: „Immertreu-Bestattungen“. Sie seien wohl falsch, mutmaßte Silvia Raschke zu Recht, doch hatten sich die Herren nicht in der Hausnummer, sondern nur im Stockwerk geirrt.
„Das ist Schicksal“, hatte einer der beiden dann gesagt und Silvia Raschke war nicht umhin gekommen, ihm beizupflichten. Sie war dann wenig später ebenfalls in den dritten Stock gefahren, dorthin, wo die gesamte Belegschaft stumm zusah, wie der arme Wilkhahn abtransportiert wurde, unwürdig wie Silvia Raschke fand und das nicht nur, weil sie einen wichtigen Kunden verloren hatte.
Ti-ti-tatta-ti-ti-ti. Stormrider12 schrieb: hey black swan. Super tolle story mit dem maskenmann, besonders die stelle mit der brennesselpeitsche. Du bist unerreicht. Mach weiter so.
Silvia Raschke spreizte nun wieder ihre Finger:
Das Licht fällt von der niedrigen Decke, dann geht es eine enge Wendeltreppe hoch. Ich fühle mich ein wenig unwohl und gehe deshalb dicht hinter der Frau. Ihr Rock ist leicht verrutscht, sodass ein dünner Streifen Spitzenwäsche aufblitzt. Sie trägt einen Tangaslip. Plötzlich sind wir oben angekommen und bleiben stehen. Eine angenehme Wärme weht mir entgegen, während es von der Treppe her kühl heraufzieht. Ich fröstele.
– Die Frau des Jagdpächters.
Die Blonde deutet eine Verbeugung an, bevor sie zur Seite hin verschwindet. Dort wird wohl eine Tür sein. Ich bin nicht allein, das spüre ich, doch sehen kann ich niemanden. Es ist ein Gefühl wie bei der Videokamera. Ich traue mich nicht zu bewegen, und je länger ich stehe, umso mehr schäme ich mich, ohne zu wissen warum.
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