– Kommen Sie näher.
Die Stimme klingt weich und warm. Ich bin geradezu dankbar, dass sie mit mir spricht. Ich gehe vorsichtig einige Schritte in den Raum und erkenne langsam die Situation. In der Mitte des Raumes steht ein riesiges Bett und davor mit einem leicht spöttischen Lächeln ein relativ großer schlanker Mann.
– Näher kommen.
Sagt er mit seiner freundlichen Stimme und hält mir die Hand hin. Als ich vor ihm stehe, rieche ich Sandelholz und ganz leicht ein wenig Tabak. Er greift meine Hand und führt sie kurz an seine Lippen. Ich spüre, wie sich alle meine Poren öffnen, sehnsüchtig nach einer Berührung von IHM. Ich kann nichts sagen. Der Mann steht mit verschränkten Armen vor mir und lächelt mich an.
– Nicht so eilig, junges Kind.
Er nimmt meine Hand und führt mich an einen Tisch.
– Ein wenig Kirschlikör. Aus dem eigenen Garten und nach einem alten Rezept hergestellt. Wirkt belebend.
Er gießt eine tiefrote Flüssigkeit ein, reicht mir das Glas.
Es ist kein Brennen, sondern eine Art Schmeicheln, das meine Kehle herabfließt, sich in meinem Magen ausbreitet und von dort weiterstrahlt, weiter nach unten, wo eine tiefe Sehnsucht
Krawitt krawitt krawitt krawitt. So klang das Handy nur bei einem speziellen Anrufer. Silvia Raschke kannte allerdings nur die Stimme, die sich hinter dieser Telefonnummer verbarg. Eine Telefonnummer, die sie selbst nie anrufen durfte und die ihr immer nur kurze Anweisungen gab. Die Stimme klang ungehalten.
„Das dauert zu lange. Gang B, rechte Seite, vorletztes Regal. Laufende Archivnummer STZ 22-03-74. Lieferung morgen.“
Dann wurde die Leitung unterbrochen. Silvia Raschke hielt das Telefon noch einen Moment in der Hand, bevor sie aufstand, um den Archivschlüssel aus dem Kasten zu holen.
STZ 22-03-74 hatte einen vergilbten Rücken und auf der Vorderseite einen Aufdruck, der als Produktionsort ein Studio Z aufwies. In den Spalten für Toningenieur, Aufnahmeleiter und Komponist hatte jemand unleserliche Krakel hinterlassen. Auf ihrem Weg zurück in das Büro kam es ihr so vor, als hörte sie eine Tür klappen. Sie blieb kurz stehen, doch Schritte hörte sie nicht.
Die Docstation lag unter dem Penthouse und erstreckte sich über den Südflügel des Gebäudes. Kilian hatte ein spezielles Glas einbauen lassen, das auch tagsüber für einen hohen Verschattungsgrad sorgte, doch richtig produktiv wurde er nur, wenn es auch draußen dunkel war. Und jetzt war es dunkel. Das Herz der Docstation bestand aus einem achteckigen gläsernen Aufnahmebereich sowie einem Steuerungsmodul, das wie ein Mond dem Studio treu zur Seite stand. Für beide Bereiche galten strenge Regeln: keine Zigaretten, keine Flüssigkeiten, keine elektronischen Geräte und Zutritt nur mit speziellen Schafwollsocken, die alle zwei Stunden gewechselt wurden, um sie zu entmagnetisieren. Kilian hatte unter anderem Angst vor Kriechströmen. Derzeit standen drei paar Schuhe vor dem Studiokomplex, die Ledersneakers von Kilian, die abgelatschten Sharks vom Sounddoc und die lang gezogenen Budapester vom Specialdoc. Die Schuhbesitzer lümmelten vor der großen Aufnahmekonsole. Der Zugriff auf die Regler war aber nur Kilian und dem Sounddoc gestattet. Es tickte ein Metronom und Kilian tippte mit dem Finger mit. Dann sagte er: „Das ist heute Morgen kurz nach zehn. 68 pro Minute.“
„Es ist mir zu verschleppt.“
Der Sounddoc tippte jetzt mit, setzte mit dem Fuß ein paar Synkopen.
„Wir könnten es verdoppeln“, sagte er.
Kilian schüttelte den Kopf und rief eine neue Datei auf.
„Hier Messpunkt zwei, kurz nach vierzehn Uhr“
Der Rhythmus lief nun etwas schneller.
„Was hast du da gemacht?“, fragte der Sounddoc.
Kilian blätterte in seiner Stundenkladde.
„Ich habe einen Beitrag über die armen Bienen gesehen. Ich hatte Mitleid.“
„Das ist gut, du liegst stabil bei 74.“
„Also versuchen wir es mit dem.“
Der Sounddoc nahm zwei Kabel von der Wand und ließ ihre vergoldeten Klinken in vier Buchsen des Steckfeldes einrasten. Dann fuhr er mit der Hand noch einmal über beide Verbindungen, bevor er zwei Regler aufzog.
„Das ist jetzt die Bassdrum, also völlig roh.“
Kilian hörte mit geschlossenen Augen zu. Niemand sagte ein Wort. Allmählich übertrug sich der Beat auf Kilians Körper, erst lösten sich die Finger seiner linken Hand, dann setzte der rechte Fuß ein. Noch immer sagte niemand ein Wort, bis schließlich Kilian erst die Augen und dann den Mund öffnete.
„Das könnte gehen. Und was hast du uns angeschleppt?“
Die Frage ging an den Specialdoc, der die ganz Zeit schweigend zugehört hatte.
„Ein saucooles Teil. Rot, analog und sehr selten.“
Er stand auf und griff hinter seinen Stuhl, um ein langes und offensichtlich nicht ganz leichtes Paket hervorzuziehen. Es war mit alten Decken umwickelt und wurde von einem dünnen Strick zusammengehalten.
„Ne typische Dachmumie. Ein wenig muffig.“
Alle drei beugten sich nun über den Tisch und ließen die Luft durch ihre Nasen strömen.
„Riecht kaum feucht“, sagte Kilian.
„Lag wohl neben altem Bettzeug“, sagte der Sounddoc.
„Typisch Nordseite“, sagte der Specialdoc und zog sein Taschenmesser heraus.
„Halt, noch nicht. Zerstör nicht diesen wunderbaren Augenblick. Was hat der letzte Besitzer gedacht, als er sein Instrument so verpackte?“
Kilian fuhr mit seiner Hand über die Decken, dann ließ er sie dort liegen, wo wohl der Instrumentenhals war.
„Wenn man sich konzentriert, kann man vielleicht noch ein Restschwingen spüren. Sollten später mal die Söhne auf dem Instrument spielen? Warum kam es dazu nicht? Das sind Fragen, die wir zum Klingen bringen müssen.“
Vorsichtig stellte Kilian das Paket auf die schmale Seite und alle drei suchten so lange nach dem Knoten, bis der Sounddoc ihn gefunden hatte.
„Vorsichtig. Ich will so viel Original wie möglich erhalten. Macht mal ein Foto, damit wir später den Knoten rekonstruieren können.“ Der Specialdoc ließ sein Handy aufblitzen, dann löste er vorsichtig die Verschnürung. Das Seil wickelte sich problemlos ab, dann löste sich an einer Stelle die Decke und der obere Teil eines feuerroten Corpus wurde sichtbar.
„Unglaublich. Wie bei einer jungen Frau, wenn der Rock hochfliegt.“
Kilian trat zurück und versuchte sich zu beruhigen, denn seine Hände zitterten bereits leicht. Die anderen beiden übernahmen den Rest, bis schließlich das Instrument vor ihnen lag.
„Frühe Siebzigerjahre, tschechisches Bass-Modell. Damals unter dem Namen Jolana eingeführt.“
Der Hals war breiter, als Kilian erwartet hatte. Am Steg und dort wo die Regler für Sound und Lautstärke aus dem Korpus ragten, waren leichte Gebrauchsspuren zu erkennen. So weit war alles in Ordnung, aber es fehlten zwei Saiten. Der Sounddoc sah die Enttäuschung in Kilians Gesicht. Er hatte jetzt nur wenige Sekunden, um den Abend zu retten.
„Das ist schade, aber wir können das sampeln.“
Kilian zeigte keine Regung. Mit dem Finger schnipste er an der tieferen der beiden Saiten, die, obwohl sie kaum gespannt war, ein ganz leises Schnarren hören ließ. Kilian lächelte.
„Wir machen das.“
Der Sounddoc griff sich den Bass und wechselte in das Studio, wo er das Instrument verkabelte. Dann drehte er einen der Mikrofongalgen näher zu sich heran und gab Kilian mit der Hand ein Aufnahmezeichen.
„Jolana Bass Rot, Erstkontakt“, sprach er in das Mikrofon, dann ließ er die Saite schwingen und drehte vorsichtig die Lautstärke hoch. Die Saite schlug gegen die Bundstäbe, sodass ein Klirren das Signal begleitete. Die tiefere Seite klang etwas klarer.
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