Ein Geächteter war immer eine angenehme Abwechslung, über die es sich zu sprechen lohnte. Seuchen gab es ja alle paar Jahre, aber Geächtete, die es wagten, vom einen in das andere Königreich zu fliehen? So wurde die Frage erörtert, unter welchem Gesetz die Drei jetzt eigentlich stünden und wie mit ihnen verfahren werden sollte, wenn man sie endlich gefasst haben würde? Darüber geriet man in Streit, dessen Ausgang Christian nicht nachvollzog.
Noch am selben Morgen wurde die Stadt auf dem Reißbrett in acht Winkel aufgeteilt und die Stadtbüttel ausgesandt, jedes Haus, jeden Stock, jede Grube, jeden Stall nach den drei Delinquenten zu durchsuchen. Christian, kraft seines Amtes als Gassenrichter, führte einen der Trupps an, die sich durch das südwestliche Tortenstück fraßen.
Hier inspizierten sie als Erstes das Haus des Druckermeisters Weidner, dessen Werkstatt sich nahe der doppelten Stadtmauer, dem Zwinger, in der Nikolaigasse befand. Meister Ignatius Weidner war insofern kooperativ, als dass er sich nicht den Stadtdienern in den Weg stellte, sondern sie lediglich als Ränkeschmiede und der Bürgerschaft untreu beschimpfte. Er behinderte also die Büttel zumindest nicht bei der Hausdurchsuchung. Der Druckermeister hatte neben seinem Erstgeborenen, dem Ketzer Matthes, noch zwei Töchter, die aber längst vermählt waren. Susanna, die älteste, bewohnte mit ihrem Mann und der Kinderschar die Dachstuben. Die andere Tochter war auswärts verheiratet worden.
Die stinkende Druckerei in den Kellergewölben bot nicht einmal einer Maus eine Ritze, einen Kasten oder eine Truhe, um sich zu verstecken. Im Gewölbelabyrinth befanden sich die Druckpressen und die Schränke mit den breiten Schubladen. Christian musterte die an Leinen aufgehängten Blätter mit den sauberen Reihen schwarzer Buchstaben. Er war bislang auch ohne sie durchs Leben gekommen.
„Hier ist kein Versteck für den Ketzer“, rief er, nachdem er alle Kellerräume durchstöbert, alle Schränke, die nur halbwegs einen erwachsenen Mann würden verbergen können, geöffnet hatte, und wandte sich zum Druckermeister um. Dem war die Puste ausgegangen, jetzt stand er mit puterrotem Gesicht und zu Fäusten geballten Händen da und taxierte den Gassenmeister. „Euch dürfte klar sein, was mit Euch passiert, wenn sich herausstellen sollte, dass Ihr Eurem Sohn Unterschlupf gewährt.“ Christian hatte sich vor dem untersetzten Drucker aufgebaut. Dessen Angstschweiß war hinter der versteinerten Miene trotzdem zu riechen. Er erwiderte nichts. „Ihr werdet allesamt gehängt: der Matthes, Ihr, Euer Weib, Eure Tochter und deren Mann, Eure Kindeskinder. Alle, die unter diesem Dach hausen.“ Noch einen Moment lang kostete Christian seine Macht aus. Ein überraschendes, ein gutes Gefühl, die Regungen seines Gegenübers lenken zu können.
„Hier ist er nicht“, stieß Meister Weidner aus, „und er wird sich hüten, hier aufzutauchen. So dumm ist er nicht. Im Gegenteil, er ist sehr schlau. Mein Sohn ist überaus gebil …“ Am Weitersprechen hinderte ihn Christians Faust, die er dem Älteren in die Magengrube rammte. Er sah zu, wie Weidner sich, nach Luft japsend, aufrichtete, aber an ihm vorbeiblickte. „Was glaubst du, wer du bist, Bürschchen“, knurrte der Weidner und seine hellen, blutunterlaufenen Augen fanden jetzt Christians Blick.
„Der Gassenrichter“, zuckte jener mit den Achseln. „Und Ratsmitglied.“
Der Weidner spuckte vor Christians Füße und der musste sich zusammenreißen, seine Fäuste nicht abermals spielen zu lassen. „Du bist kein Ratsmitglied“, grollte der Alte. „Du bist deren Lakai, ein Bückling, sonst nichts. Fällst weder Entscheidungen, noch wirst du um deine Meinung gefragt. Sie schicken dich los, wenn es was Schmutziges zu erledigen gibt. Zu was anderem brauchen die dich nicht.“
„Halt’s Maul“, verlor Christian den Kampf gegen seine Vernunftstimme. Er packte Weidner am Kragen und drückte ihn gegen die Felssteinwand des Gewölbes. Die Binse in der Halterung neben seinem Gesicht flackerte nervös. „Halt einfach die Klappe, hörst du?“ Er forschte im Gesicht des anderen, das keine Regung zeigte, und ließ Weidner los. In Christians Mund floss Speichel zusammen, sein Herz schlug erregt. So weit war er noch nie mit einem Unruhestifter gegangen. Es bereitete ihm Vergnügen, auszuspielen, was Weidner nicht hatte: Jugend, Kraft, Schönheit, Aufstiegsmöglichkeiten.
„Dein Vater, Gott sei ihm gnädig, der würde sich im Grab umdrehen, Bengel!“, raunte Weidner, scheute aber den Blick ins Gesicht des Jüngeren.
Christian, Zeit seines Lebens mit seinem Vater uneins, spuckte am Weidner vorbei an die Wand. Er wusste, dass sein Vater, der Schmied, seinerzeit mit dem Druckermeister gut bekannt war, aber sein Vater war tot und hatte gar nichts mehr zu melden.
Sollte der Druckermeister doch in seinem Gewölbe vermodern! Christian wandte sich ab und ging, zwei Stufen auf einmal nehmend, wieder hinauf.
Die Sterbenden werden von alledem gelöst und sind für die Bußsatzungen bereits gestorben,
haben somit Kraft derselben Befreiung erlangt.
Druckermeister Ignatius Weidner lauschte dem Widerhall der Stiefelabsätze auf den buckligen Steinplatten in der obigen Wohnhalle, folgte ihnen durchs Haus, ins kleine Ladenlokal, das sein Vater seinerzeit zur Nikolaigasse hinaus eingerichtet hatte. Dann war es totenstill. Die Geräusche der Gasse hallten nicht bis hier herunter. Ignatius brauchte noch ein, zwei Momente, bis er von der Gewissheit beseelt war, die Stadtdiener seien verschwunden.
Er hastete hinüber in den angrenzenden Raum, ging vor der Hochdruckpresse in die Knie und schaute unter den Drucktisch. „Alles in Ordnung?“, fragte er unter die Tischplatte.
„Ja, aber das Seil schneidet allmählich ein“, kam die Antwort unter dem Tisch hervor.
Ignatius nickte, was sein Sohn nicht sehen konnte, weil er von unten an den Tisch geschnürt war. Der Alte schnitt Matthes vom Tisch ab. Der krabbelte unter der Presse hervor, blieb aber auf dem Boden sitzen. „Ich kann hier nicht bleiben, Vater. Das wird zu gefährlich.“
Ignatius nickte. Er hatte so viele Fragen an seinen Sohn. Er begriff nicht, wie es so weit hatte kommen können, dass man Matthes als Geächteten suchte. „Wieso?“, war das Einzige, was er herausbrachte. Wieso ward ihr so leichtsinnig? Was ist nur in euch gefahren?, wollte er fragen, schüttelte aber den Kopf. Sein Sohn war schon immer der Hitzkopf gewesen, dem die Druckerei zu klein, die Welt aber zu groß war.
Matthes zeigte ein unsicheres Lächeln. „Weil es sein musste, Vater … Ich muss Carolina finden.“
Carolina, das Mädchen, aus dem Anhaltischen. Ignatius hatte in einem von Matthes Briefen von ihr erfahren, wollte sie aber nicht wahrhaben, wollte nicht, dass Matthes mit einer Küchenmagd anbandelte, wo sein Weg für die Bürgerstöchter oder allemal für Gottes Werk geebnet war. Ignatius erwiderte nichts. Es war nicht an der Zeit, seinen Sohn wegen seiner Wahl zu ermahnen. Er nickte nur und rang Matthes das Versprechen ab, achtsam zu sein.
„Es ist vermutlich tagsüber ungefährlicher als nachts“, sagte er und war schon fast aus der Druckerei verschwunden. Und doch drehte sich Matthes noch einmal um. „Ich hoffe, Andres hat es überlebt. Sie haben ihn halb tot geprügelt. Um ihn müssen wir uns sorgen, nicht um mich. Bitte, finde heraus, wie es ihm geht.“
Ignatius nickte. Andres war ihm wie ein Mitglied der Familie, wie ein Sohn, seit er damals gemeinsam mit Matthes die Lateinschule besucht hatte. „Ich schließe ihn in meine Gebete ein, genau wie dich und …“, gib dir einen Ruck, alter Knochen! „… Carolina.“
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