»Ist etwas passiert, Lenchen?«, fragte er. »Gertrud hat sich quer über den Hof davongemacht, als ich reinkam. Das hat ausgesehen, als ob sie nicht mit mir reden wollte. Rosina sagt auch kein Wort.«
Rosina stand unübersehbar am Herd, und er redete über sie. Magdalene wusste, dass er das nicht aus Bosheit tat. Nein, er nahm die Magd nicht wahr. Er sah nur Magdalene an, die am Tisch saß. Seit sie verheiratet waren, seit drei Jahren, konnte sie sicher sein, dass sie im Mittelpunkt all seiner Gedanken stand. Trotzdem musste er sich anständig benehmen; sie wollte nicht, dass das Gesinde ihren Mann wegen seiner Zuneigung für einen Trottel hielt. Unter normalen Umständen hätte sie ihm ein paar Takte gesagt, aber das Erlebnis mit Else lenkte sie von allem anderen ab. Sie antwortete missmutig: »Nichts, worüber sich zu reden lohnt. Else hat uns eine Posse vorgeführt und die Mädchen glauben gleich an ein Wunder.«
»Eine Posse? Was für eine Posse? Erzähl mir davon!«
Rosina verließ die Küche, und Magdalene atmete auf. Sie konnte freier reden, wenn niemand vom Gesinde in der Nähe war. Außerdem musste sie ihren Groll gegen Else sorgfältig verbergen, und das war schwer, wenn jemand wie Rosina dabei war, die genau zuhörte.
Dass Else ihre junge Herrin nicht leiden konnte, wusste Magdalene seit dem Tag nach ihrer Hochzeit. Im gleichen Augenblick, als Else an jenem Tag ins Erkerzimmer getreten war, das Schlüsselbund in der Hand, mit dem sie die Herrschaft über den Haushalt abgab, war ihr der Hass zum ersten Mal so deutlich aus dem Blick gestiegen, dass Magdalene ihn wie einen Feuerblitz spürte. Jeder im Haus hatte die Anspannung mitbekommen, die zwischen den beiden Frauen herrschte, nur Georg Rehnikel hatte sie nicht bemerkt.
Magdalene gab wieder, was sie von Elses Posse gesehen hatte. Am Ende ihrer Erzählung hielt sie einen Moment inne und sah ihrem Mann in die Augen. »Ich weiß, was Else bezweckt. Sie will vor den Mädchen schlau dastehen und ihnen Angst einjagen.«
Georg schlug den Blick nieder und sagte nichts.
Magdalene stellte das Brett mit dem Brotlaib und dem Schinken auf den Tisch, schnitt ihrem Mann eine dicke Scheibe von beidem ab und setzte sich neben ihn. Sie sah zu, wie er abbiss und kaute.
Erst dann raffte er sich zu einer Erwiderung auf. »Diese Sache darfst du nicht ohne Weiteres abtun, Lenchen«, antwortete er mit vollem Mund. »Wer weiß, vielleicht war es wirklich eine Offenbarung. So etwas soll es geben.«
»Du meinst die extraordinären Weiber.«
Eifrig nickte er, kaute, schluckte, redete wieder deutlich. »Manche Menschen besitzen eine Gabe, sie können beim Gebet in Verzückung geraten, meistens Weiber. Sie haben vielleicht das zartere Gemüt? Wir haben in unserem Zirkel darüber geredet, was die Ursache der Verzückung sein kann. Wir halten es für möglich, dass tatsächlich die Stimme Gottes aus ihnen spricht.«
»Das ist Unsinn. Wieso sollte Gott seine Stimme ausgerechnet Mägden leihen?«
»Warum nicht? Schließlich ist Gott auch in Jesu Gestalt unter die Armen gegangen und hat sich erniedrigt.«
Magdalene seufzte. Georgs nächste pathetische Rede war nicht mehr aufzuhalten. Erst am Abend zuvor hatte ihr Mann beim Essen aus seinem Pietistenzirkel berichtet, langatmig und mit jeder denkbaren Ausschmückung. Seine Stimme hatte vor Begeisterung vibriert. Es war um Adelheid Schwartz gegangen, eines der extraordinären Weiber. Er hatte geredet, als ob er die Frau selbst erlebt hätte, und hörte gar nicht wieder damit auf.
»Georg, das hier ist etwas anderes«, beschwor sie ihn. »Else war nicht bei sich. Du hättest sie sehen sollen.«
»Gerade das ist ein guter Beweis! Außerdem ist es nicht unsere Aufgabe, die Erleuchtung zu begutachten. Das können gelehrte Männer übernehmen.«
»Glaube mir, Weiber wissen, was anderen Weibern im Kopf herumgeht.«
»Weiber sind ihresgleichen gegenüber härter im Urteil als Männer.«
Sein Tonfall war schärfer geworden. Das hieß, er wollte sich von seiner Frau nicht dreinreden lassen. Selten redete er in diesem Befehlston mit ihr.
Magdalene wusste, dass ihr Mann freundlich war, freundlicher als die meisten anderen, aber sie durfte es nicht übertreiben. Anderswo gab es Schläge und unfreundliche Worte für Ehefrau, Gesinde und Kinder. Hier nicht, hier war der Ton des Hausherrn liebevoll, außer wenn jemand versuchte, ihm bei seinen Glaubenssachen ins Handwerk zu pfuschen. Darin fühlte er sich im Haus als Einziger zum Lehrer berufen.
Magdalene lenkte ein. »Ich glaube, die Extraordinären lügen nicht absichtlich. Sie glauben, was sie sagen.«
»Natürlich tun sie das. Sogar Pfarrer Francke glaubt ihnen.«
»Der Pfarrer aus Glaucha?«
»Du weißt doch, der Neue. Er ist kaum ein paar Monate im Amt, da hat er sich schon Feinde gemacht. Man nimmt ihm den Kontakt zu Adelheid Schwartz übel, weil die sich nicht an die Regeln des Kirchenlebens hält. Es ist wirklich schwer zu unterscheiden, ob die Weiber tiefgläubig oder Scharlatane sind. Stell dir vor, im Harz gibt es welche, die raten davon ab, den Gottesdienst zu besuchen und am Abendmahl teilzunehmen.«
»Warum? Geben sie einen Grund an?«
»Sie sagen, es würde davon ablenken, ein echtes Glaubensbekenntnis abzugeben.«
»Da siehst du, mit welchen Vorstellungen diese Weiber daherkommen. Vielleicht wollen sie damit etwas bezwecken? Wenn man Else für ihresgleichen hält, kann sie dir eine Menge Ärger einbrocken.«
Das hätte Magdalene nicht sagen dürfen. Georg runzelte die Stirn und wandte seinen Blick in die andere Ecke der Küche. »Ich sehe, du sprichst in Vorurteilen.«
Er sagte kein Wort mehr. In der Küche war es still, man hörte nur die leisen Geräusche des Essens, sein Kauen und das Scharren seines Messers auf dem Brett. Als er mit dem Abendbrot fertig war, erhob er sich von seinem Platz am Tisch, durchquerte den Korridor und stiefelte die Treppe hinauf. Er ging jeden Abend einmal durch alle Zimmer bis zu ihrem Sohn Hans, der schon im Bett lag. Magdalene, das Licht in der Hand, folgte ihrem Mann hinauf und ging ins Schlafzimmer vor, zog ihre Kleider aus und machte sich zum Schlafen bereit. Sie rollte sich unter dem dicken Deckbett ein und wartete auf ihren Mann.
Georg kam nicht.
Sie hörte ihn in seinem Kontor rumoren. Das war der Raum neben dem Schlafzimmer. Er hatte seine Öllampe auf dem Pult stehen, ihr warmer Schein leuchtete, da die Tür einen Spalt offenstand, bis an den Rand des Bettes. Die Türen des Bücherschranks klappten, die Schublade unterm Pult wurde herausgezogen und hineingeschoben, die Feder kratzte.
Magdalene schlief ein.
Sie hörte nicht, wie ihr Mann zurückging und die Treppe hinabstieg. Er schlurfte durch den Laden ins Lager, wo er sich am liebsten aufhielt, wenn er mit niemandem reden wollte. Er kramte herum, putzte den Destillierapparat und murmelte vor sich hin. Sie hörte auch nicht, dass Else die Treppe aus dem obersten Stock herunterkam, leise, so leise, wie man mit Holzschuhen gehen konnte.
Magdalene träumte in dieser Nacht von Else. Es war ein merkwürdiger Traum, einer, in dem Else eine junge Frau war, was man sich nicht vorstellen kann, wenn man selbst jung ist und die anderen alt. In diesem Traum lachte Else, sie sah so fröhlich und gelöst aus, wie es ihre Herrin in Wirklichkeit noch nie gesehen hatte.
Als Magdalene Rehnikel am Morgen aufstand, war ihr unwohl. Es fühlte sich an, als hätte sie sich den Magen verdorben oder als wäre mit der Luft in der Stube etwas nicht in Ordnung. Sie sah sich um, als sie das Schlafzimmer verließ. Alles sah aus wie immer, die dicken Federbetten lagen aufgeschüttelt an ihrem Platz, die Truhe, der Schrank, die leere Wiege standen an derselben Stelle wie jeden Morgen, seit sie hier wohnte. Georg war schon vor ihr aufgestanden. Er hielt sich an seinem Pult im Kontor fest, die Nase über dem Buch mit den Eintragungen und die Feder in der Hand.
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