»Bist du wegen des Wettbewerbs hier?«, fragte Olivia möglichst beiläufig. Wenn Chris zu ihrer Konkurrenz gehörte, konnte sie einpacken.
»Nein. Ich bin der Assistent von Lucian.«
»Ist ja cool.« Was für ein klasse Spruch, Oliv. Damit beeindruckst du ihn sicher.
Chris blickte auf, musterte Olivia kurz und wandte sich wieder seinem Hemd zu. Doch statt den Schaden zu beheben, machte er den Fleck eher größer.
Olivia beobachtete ihn dabei. Der ist ja richtig schnuckelig. Seine braunen Augen haben fast den gleichen Farbton wie seine Haare. »Wie gesagt, ich zahl dir gerne die Reinigung«, sagte sie leise.
»Lass gut sein. Nach dieser verfluchten Katastrophe ist ein ruiniertes Hemd doch die perfekte Krönung.«
»Weiß man schon, wer eingebrochen ist?«
»Klar doch. Die Polizei hat diesen Fall auf die Prioritätenliste ganz nach oben geschoben. Man munkelt, dass sie sogar Kollegen vom CSI herbestellt haben. Sie werden alles daran setzen, diese Vandalen zu verhaften. Wo kämen wir hin, wenn jeder einfach ungestraft hässliche Kunstwerke verunstalten könnte?«
»Verstehe. Ihr habt keine Ahnung, wer es war – und die Polizei wird sich einen Dreck darum kümmern.«
Chris blickte sie mit einem Stirnrunzeln an und schüttelte den Kopf. »Eine Schnellmerkerin, sieh mal einer an.«
»Chris!«, rief ein Mann auf einmal.
Olivia und Chris drehten sich gleichzeitig um. Für eine Sekunde verschlug es ihr den Atem. »Das ist Lucian McAllister.« Der Modefotograf. Der Gott. Der ultimative Superheld. Wobei Olivia ihn sich größer vorgestellt hatte. Er stand neben Rebecca Reach, die ihn um fast einen halben Kopf überragte. Die hatten bestimmt bei den Bildern in der Zeitung getrickst.
Chris seufzte. »Der Herr und Meister ruft. Hier.« Chris gab Olivia das Päckchen Taschentücher zurück und schnappte sich den Kaffee, den er vorhin auf dem Briefkasten abgestellt hatte. »Ich werde mir mal den nächsten Anschiss abholen. Lucian hasst kalten Kaffee, aber da ich meinen Job vermutlich eh verliere, spielt das keine Rolle.«
»Aber du wirst doch nicht wegen des Einbruchs deinen Job verlieren?! Was kannst du denn dafür?«
»Alles. Ich war für den Wettbewerb und für die neue Ausstellung von Lucian verantwortlich. Ich habe dafür zu sorgen, dass alles reibungslos läuft.«
»So ein Quatsch.«
»Schön. Genau das werde ich Lucian sagen: So ein Quatsch. Das stimmt ihn bestimmt milder.« Chris schüttelte den Kopf, hob die Fototasche auf und setzte sich in Bewegung.
»Oh, eine Frage noch«, rief Olivia ihm nach: »Wo kann ich mich für den Wettbewerb einschreiben?«
»Beim lieben Gott vielleicht. Der Wettbewerb ist natürlich abgesagt.«
»Was? Nein! Das könnt ihr doch nicht machen.«
»Sag das der Polizei. Die Galerie bleibt bis auf Weiteres geschlossen. Ein Traum!«
»Aber wenn der Täter geschnappt wird, kann der Wettbewerb doch stattfinden, oder?«
Eine Antwort erhielt sie nicht. Chris schlängelte sich durch die Menschenmenge und brachte Lucian den nur noch halb vollen Kaffeebecher. Lucian nahm einen kleinen Schluck und schüttelte verärgert den Kopf.
Ein Traum. In der Tat. Und dieser platzte gerade wie eine dicke, fette Seifenblase. Olivia brauchte diesen Wettbewerb. Sie knabberte an ihrer Unterlippe, drehte um und folgte den Menschen, die sich bereits wieder zerstreuten, um ihrer Arbeit nachzugehen. Der Einbruch war eine kurzzeitige Sensation, eine Ablenkung vom Alltag, die so schnell verpuffte, dass heute Abend kein Hahn mehr danach krähen würde. Und genauso würde es die Polizei auch handhaben. Ein wenig recherchieren, dann den Fall als »ungelöst« zu den Akten legen. Fertig.
Also hieß es selbst kreativ werden. Olivia lief zurück zu ihrem Auto. Sie würde Hilfe brauchen und wusste auch schon, wen sie darum bitten könnte.
*
Dienstag nach der Schule
Danielle tippte auf ihrem neuen iPhone herum, während sie die Drehtüren Zur rüstigen Eiche passierte. Die Seniorenresidenz, in der ihre Gran lebte. Danielle musste unbedingt die Fortschritte der letzten Reitstunde aufschreiben, immerhin hatte sie heute zum ersten Mal den fliegenden Galoppwechsel geschafft.
»Obacht, junge Frau«, rief ein älterer Mann auf einmal.
Danielle blickte auf und bremste. Sie wäre fast in einen Opi gelaufen, der im Rollstuhl saß. Er trug ein langes Nachthemd, um den Hals baumelte eine Sauerstoffmaske.
»Tut mir leid, ich habe Sie gar nicht gesehen.«
»Das habe ich bemerkt.« Er grinste zahnlos zu Danielle hoch. Entweder hatte er sein Gebiss vergessen oder legte keinen Wert darauf. Danielle erwiderte sein Lachen. Im Foyer herrschte reges Treiben. Pfleger liefen umher, Handwerker bauten ein Holzpodest auf. Es wurde gehämmert, gebohrt und geplaudert.
»Was ist denn hier los?«
»Ein Event«, sagte der Alte und nickte freudig. »Die bauen eine Bühne.«
»Und für was?«
»Für die Beatles! Sie werden ein Konzert geben.«
»Aber die Beatles gibt es doch gar nicht …« Danielle blickte zu dem Opi. Er wippte mit den Schultern hin und her, als würde bereits die Musik laufen und fing an lauthals »Let it be« zu singen. »John Lennon ist der Größte!«
»John Lennon ist …«
«Let it be, let it beeeee …”
Danielle schüttelte den Kopf. »Dann mal viel Spaß mit den Beatles.« Sie lief weiter. Der Alte grölte noch eine Weile vor sich hin, wobei er immer wieder die erste Strophe wiederholte. Danielle passierte das Foyer und schrieb noch rasch eine SMS an ihre Mum, damit sie wusste, dass alles okay war.
»Hi, Danielle!«, rief jemand.
Sie blickte auf. »Hi, Phil. Alles klar?«
Der Pfleger kam gerade aus einem Flur gelaufen. Seit Mischa Blackwood wegen Drogenkonsums während der Arbeit suspendiert worden war, war Phil als neuer Pfleger für ihre Gran eingeteilt. Der junge Kerl mit den Sommersprossen und den roten Haaren war Danielle eindeutig sympathischer. Allein schon wegen seines irischen Akzents, wobei Danielle glaubte, dass er den nur fakte. Unter dem Arm trug er eine Ein-Meter-Holzplatte, die in rotem Samt eingewickelt war.
»Klaro, haben einiges zu tun.«
»Das stimmt. Was ist eigentlich los? Und erzähle mir nicht, Paul McCartney sitzt im Büro des Heimleiters und bespricht gerade seine Gage.«
»Hat dir das der alte Arthur erzählt? Dem darfst du kein Wort glauben. Letzte Woche hat er behauptet, er hätte einen Außerirdischen an der Eiche draußen hängen sehen.«
»Ich dachte mir schon, dass das nicht stimmt, aber was soll der Trubel?«
»Wir bereiten eine Gedenkfeier für den Direktor der alten Schule vor, Henry Snyder. Er hat sich heute Nacht erhängt. Wundert mich gar nicht, er hatte auf seine letzten Tage ziemliche Schmerzen. Wurde vom Krebs förmlich aufgefressen.«
»Oh. Das tut mir leid.« Danielle hatte den Mann zwar nicht gekannt, aber die Vorstellung, wie jemand von seinen eigenen Zellen von innen heraus zerstört wurde, trieb ihr die Gänsehaut auf die Arme.
»Und weil er so eine Berühmtheit war und schon ewig hier lag, veranstalten wir eine kleine Gedenkfeier. Wir stellen alte Bilder von ihm aus, der Heimleiter wird ein paar Worte über ihn verlieren und es gibt gegrillte Würstchen. Du bist natürlich herzlich eingeladen zu kommen.«
»Das ist nett, aber ich weiß nicht, ob ich kann.«
»Komm einfach, wenn es passt.«
»Mache ich. Wie geht es Gran eigentlich? Alles gut mit ihr?«
»Sehr gut sogar. Ich achte darauf, dass sie die richtigen Pillen einnimmt.«
Danielle legte eine Hand auf seine Schulter. »Danke dir. Ich muss weiter. Man sieht sich.«
»Ja.« Phil drehte um, dabei verrutschte das Samttuch, das um die Holzplatte gewickelt war. Ein lebensgroßes Foto eines Mannes kam zum Vorschein. Er war mittelgroß und schmächtig. Die Art von Mann, die einem nicht im Gedächtnis blieb. Ein Allerweltsgesicht. Er trug einen Anzug und posierte mit einem Lächeln neben einem Pokal aus Silber.
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