»Ist das der Direktor?«, fragte Danielle und betrachtete das Bild genauer.
»Oh ja. Warte.« Phil zog den Rest des Tuches herunter.
Der Direktor stand vor einem blauen Vorhang auf einer Bühne. Das Bild war eindeutig gestellt worden, so verkrampft wie er in die Kamera lächelte. Danielle betrachtete es lange. Irgendetwas kam ihr daran bekannt vor, doch sie konnte beim besten Willen nicht sagen was.
»Das ist an dem Abend vor dem Mord aufgenommen worden«, sagte Phil.
»Dem Mord?«
Phil nickte und beugte sich näher zu ihr. »Dem Marietta-King-Mord. Der ging damals durch alle Medien, aber du bist zu jung, um davon zu wissen.«
Ach, und Phil war gerade mal fünf Jahre älter als sie. »Erzähl mir mehr davon.« Natürlich wusste Danielle von dem King-Mord. Immerhin hatte sie unlängst mit Randy, Olivia und Mason einen geheimen Raum gefunden, in dem alle Unterlagen zu dem Fall von Billy Tarnowski zusammengesucht worden waren. Zudem waren Masons Vater Jamie und Danielles Mum Shannon Freunde von Marietta und ein Paar gewesen. Ein Fakt, den Danielle immer noch nicht so recht verdaut hatte. Sie konnte sich die beiden beim besten Willen nicht miteinander vorstellen.
»Also, die Bilder vom Shooting sollten am nächsten Tag in der Zeitung erscheinen«, erzählte Phil weiter. »Die Schule plante nämlich einen Wettbewerb, bei dem auch Schüler anderer Städte eingeladen waren. Mit jeder Menge Presse und so. Es sollte eine Art Jeopardy werden. Kennst du Jeopardy?«
»Die Quizshow, in der man die Antwort als Frage formulieren muss.«
»Genau. Sie wollten eine Jeopardyshow in der Schule ausrichten, aber dazu kam es nicht, wegen des Mordes an Marietta King. Die ganze Veranstaltung wurde abgesagt. Möchte nicht wissen, was das gekostet hat. Das Bild hier ist aus dem Archiv von damals. Es wurde nie veröffentlicht. Heute quasi das erste Mal.«
»Ist ja interessant. Dürfte ich das fotografieren?«, fragte sie. »Meine Mum ging damals auf die Schule, als Snyder noch Direktor war. Sie wird sich sicherlich dafür interessieren, dass er tot ist.«
»Klar doch.« Phil richtete das Bild auf, damit es gerade stand.
Danielle zog ihr iPhone aus der Tasche und knipste zwei Bilder. Sie würde es den Jungs und Olivia zeigen. Wenn dieses Foto am Abend von Mariettas Tod aufgenommen worden war, war es ein weiteres Puzzlestück in dem Rätsel. Danielle checkte, ob die Bilder etwas geworden waren und steckte das iPhone wieder ein. »Danke.«
»Gerne«, sagte er und zog den Samtbezug wieder über das Foto. »Bis später dann. Wir sehen uns.«
Sie verabschiedete sich von Phil und lief weiter zum Zimmer ihrer Gran. Gerade wollte sie an die Tür klopfen, als ihr Handy pfiff. Der Signalton, wenn Mum ihr eine SMS schickte. Danielle blickte kurz drauf: »Wir sind morgen Abend auf der Gedenkfeier von Henry Snyder eingeladen. Dein Vater möchte, dass du dir noch etwas Passendes zum Anziehen besorgst. Dezent und schwarz.«
Das war’s. Kein: Hab dich lieb, kein: Wie geht’? Nur ein: Tu dies, tu das, stell keine Fragen. Danielle hatte absolut keinen Bock auf eine weitere langweilige Veranstaltung, bei der sie die Vorbildtochter mimen musste. Mit einem Seufzen schaltete sie das Handy ab und klopfte an die Tür von Gran.
»Hi, Gran«, sagte sie.
»Kindchen! Schön, dass du da bist.«
Danielle trat ein und musterte ihre Großmutter. Sie sah blass aus und ihre Hände zitterten leicht. »Geht es dir gut, Gran?«
»Ja, ich bin nur etwas müde. Ich habe die halbe Nacht nicht geschlafen, weil mein Nachbar so viel Lärm gemacht hat und heute bohren und hämmern sie schon den ganzen Tag.«
»Sie bauen eine Bühne auf.«
»Das habe ich gehört. Angeblich kommen die Beatles.«
Danielle lachte. »Das sind nur Gerüchte, Gran. Wie wäre es, sollen wir ein bisschen in den Garten? Heute ist ein herrlicher Tag.«
»Nur, wenn wir am Eisstand vorbei können.«
»Einverstanden. Du stehst Schmiere, ich besorge das Eis.« Wenn Dr. Silverman, der behandelnde Arzt ihrer Gran, erfuhr, dass ihre Großmutter schon wieder naschte, würden sie Ärger bekommen. Hier mussten sie taktisch klug vorgehen.
»Perfekter Plan«, sagte Gran und grinste verschwörerisch.
*
Mittwoch, nach der Schule
Randys Finger flogen über die Tastatur und nahmen jedes Wort auf, das Danielle von sich gab. Er hatte mittlerweile verschiedene Dokumente angelegt und über Schlagwörter miteinander verknüpft. Dieses würde in der Akte über die Mordnacht landen. Bis er sich durch den restlichen Aktenberg gewühlt hatte, würden allerdings noch einige Wochen ins Land ziehen.
»… heute Nacht gestorben«, schloss Danielle ihre Erzählungen und zog die Beine an. Sie fläzte auf ihrem Lieblingsohrensessel, während sie Randy in aller Ausführlichkeit berichtete, was sie erfahren hatte.
Randy drückte auf »speichern« und trank einen Schluck Kaffee. Schwarz und heiß. Perfekt.
Mason kniete vor dem geöffneten Kühlschrank und überlegte seit einer gefühlten Stunde, was er trinken sollte.
»Alter, wenn du das Ding nicht bald zumachst, ziehen hier die Eisbären ein«, sagte Randy.
Mason grummelte, nahm sich eine Limo und setzte sich auf einen alten Bürostuhl am anderen Ende des Tisches.
Sie hatten den geheimen Raum mit den Aufzeichnungen von Billy Tarnowski erst vor ein paar Tagen entdeckt, aber Danielle hatte in Windeseile eine Kaffeemaschine, einen Wasserkocher, eine kleine Herdplatte (mit leerem Magen konnte man nicht denken) und einen Kühlschrank organisiert. In der Ecke standen zwei Eimer Farbe für die Wände und verschiedene Stoffmuster, mit denen sie die Couchen neu beziehen wollte, außerdem hatte sie einige Bilder mit vielen bunten Farbklecksen mitgebracht.
»Das ist moderne Kunst, du Banause«, hatte sie gesagt, als Randy gefragt hatte, ob das ihre Katze gemalt habe.
Außerdem hatte Randy mittlerweile eine kabellose Verbindung zwischen dem alten Router und dem neuen Rechner aufgebaut. So hatten sie immerhin eine 100 MBit/s Download- und eine 5 MBit/s Upload-Rate. Zusammen mit Mason hatte er seinen alten Rechner aufgebaut, den Scanner und einen Drucker angeschlossen. Sie hatten ihre eigene kleine Kommandozentrale.
»Ich habe das Bild von dem Direktor fotografiert«, sagte Danielle und kramte ihr Smartphone aus ihrer Handtasche. »Irgendetwas darauf kam mir bekannt vor, aber mir ist immer noch nicht eingefallen was.«
Sie machte Anstalten aufzustehen, um es den Jungs zu zeigen, aber Mason war bereits aufgesprungen und nahm es ihr ab. Mason bemühte sich sichtlich darum, etwas Sinnvolles zu diesem Projekt beizusteuern, obwohl er sich gar nicht so anstrengen musste. Sein Selbstwertgefühl hatte gehörig gelitten seit der Sache mit den Drogen an der Schule. Das Verschwinden der Beweise hatte es nicht besser gemacht, im Gegenteil: Mittlerweile verbreitete Brian Bruker die Story, dass Mason im Polizeirevier eingebrochen war und die Drogen geklaut hatte. Wie Mason das hätte anstellen sollen, sagte Bruker allerdings nicht. Heute in der Pause hatte Randy mit angehört, wie Bruker über Olivia Young ablästerte. »Die kleine Conchita hat doch voll Dreck am Stecken. Vermutlich hat sie Collister geholfen, ins Revier einzubrechen und die Drogen zu klauen.«
»Wo ist eigentlich Olivia?«, fragte Randy. Er hatte sie seit dem letzten Treffen hier unten nicht mehr gesehen oder gesprochen.
»Keine Ahnung«, sagte Danielle.
»Sie kommt noch«, antwortete Mason und blickte dabei auf das Foto, das Danielle geschossen hatte. Randy und Danielle starrten ihn gleichzeitig an. Mason brauchte ein paar Sekunden, bevor er die Blicke der anderen bemerkte.
»Dir sagt sie Bescheid und uns nicht?«, fragte Randy.
Mason zuckte mit den Schultern. »Was denn? Sie hat mir vorhin ’ne Nachricht geschickt. Kann ich doch nix für, wenn sie euch nicht informiert.«
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