»Lauf!« Elias griff nach Annies Hand und zog sie hinter sich her. Hinter ihm krachte es ohrenbetäubend, doch er wollte sich nicht mehr umsehen. Er wollte nur noch raus aus dieser Ruine!
»Kiresh!« Jemand schrie. Elias glaubte, die Stimme als die der Jägerin identifizieren zu können. Panisch stürzte er vorwärts, stolperte fast zum zweiten Mal über das Trümmerteil, das ihn schon einmal in dieser Nacht von den Füßen geholt hatte. Fest hielt er Annies Hand umklammert, als er endlich durch das Loch nach draußen sprang. Ob die Jägerin ihnen folgte oder nicht, konnte er nicht sagen; er wagte es nicht, stehenzubleiben und sich umzudrehen. Er hörte bloß ihre Schreie, wie sie nach ihrem Bruder rief.
Wie lange sie gerannt waren, ohne stehenzubleiben, ohne sich umzusehen, konnte hinterher niemand von ihnen mehr sagen. Irgendwann war ihnen die Puste ausgegangen. Nun befanden sie sich auf der anderen Seite der Stadt, ganz in der Nähe eines Zugangs zur unterirdischen Zuflucht. Aber das half ihnen nicht, wenn ihnen niemand öffnete.
»Wir müssen ein Versteck finden«, keuchte Annie. Sie zog Elias in die Richtung eines verfallenen Gebäudes. Er folgte ihr, aber sah nicht recht den Sinn darin. Auch im nächsten Versteck konnten sie aufgespürt werden. Diesmal vielleicht von anderen Jägern. Oder von einer größeren Gruppe.
Annie drückte die Klinke und ging voraus. Die Tür knirschte, als sie aufschwang. Das Exterra leuchtete ihnen mehr schlecht als recht den Weg. Es flackerte zwischenzeitlich, aber zumindest genügte es, um einen Eindruck von dem Gebäude zu bekommen. Es schien ein ehemaliges Wohngebäude zu sein. Anders als jene, in denen sie bisher Zuflucht gesucht hatten. Sie warfen einander einen Blick zu und in stummer Übereinkunft schoben sie eine altersschwache Kommode vor die Eingangstür. Dann machten sie sich auf die Suche nach einem Zugang zum Keller. Staub rieselte von der Decke und mehr als einmal pflückte sich Elias Spinnweben vom Gesicht. Offenbar war seit sehr langer Zeit niemand mehr hier gewesen.
Die Tür zum Keller schien nicht verschlossen zu sein, aber sie ließ sich auch nicht um mehr als einen schmalen Spalt öffnen. Feuchtkalte Luft schlug ihnen daraus entgegen. Sie roch alt und modrig. Elias warf sich mehrmals gegen die Tür, so fest er konnte. Ihm war, als bewegten sich die alten Angeln Millimeter für Millimeter.
»Ich glaub, jetzt passe ich durch«, flüsterte Annie irgendwann und tatsächlich: Mit etwas Mühe quetschte sie sich durch den Spalt und half Elias, indem sie von innen an der Klinke zerrte.
»Jetzt!« Elias folgte Annie ähnlich mühsam, dann machten sie sich daran, die Tür von innen wieder zuzudrücken. Wenn sie Schwierigkeiten hatten, die Tür zu öffnen, dann galt das hoffentlich auch für Jäger.
Erschöpft sanken sie auf die Stufen, die hinunter in die Schwärze führten und blieben sitzen. Zu müde, um sich noch großartig zu bewegen. Irgendwo in der Ferne quiekte eine Ratte, Wasser tropfte. Ein kurzer Blick mit der sterbenden Taschenlampe zeigte, dass der Keller mindestens zur Hälfte unter Wasser stand.
»Lass uns einfach hierbleiben«, schlug Elias kraftlos vor. Einige Stunden mussten sie noch aushalten, in denen sie nicht aufgespürt werden durften. Zwei Drittel der Nacht hatten sie bereits geschafft.
***
»Hier, sieh«, flüsterte Annie. Elias schreckte aus seinem unruhigen Dämmerschlaf hoch, bereit zu fliehen oder zu kämpfen, doch Annie hielt ihm nur sein Phone hin. »Gleich acht. Die Sonne müsste schon so gut wie aufgegangen sein. Wir … wir haben es geschafft.« Ungläubig starrte Elias auf das Display. Annie hatte recht: Sie hatten die Nacht überlebt! Einmal mehr fielen sie einander in die Arme und weinten. Diesmal war es vor Erleichterung. Auf zittrigen Beinen stemmte Elias sich hoch und gemeinsam mit Annie schaffte er es, die Tür aufzuziehen. Er stakste Richtung Ausgang. So ganz glauben konnte er es nicht, doch das Licht, das ihren Schutzraum durch ein paar Ritzen erhellte, war wirklich da. Trotzdem war er vorsichtig, als er die Barrikade hinter der Tür öffnete und hinaustrat. Bedacht darauf, beim kleinsten Anzeichen eines Jägers sofort wieder hineinzuspringen. Doch es blieb still. Nichts regte sich.
»Ich glaube, wir haben es wirklich geschafft«, hauchte er und drehte sich zu Annie um, die ebenso zögerlich ihren Kopf durch den Spalt steckte.
»Ja …« Auch sie schien es kaum glauben zu können. Sowohl er als auch Annie zeigten eindeutige Zeichen eines Kampfes, doch Elias sah sie nicht mehr. Für ihn war nur wichtig, dass sie diesen Kampf gewonnen hatten. Was aus den Jägern geworden war, wusste er nicht und es war ihm auch egal.
»Lass uns nach Hause gehen.«
Sie erreichten die Tore Hand in Hand, stützten sich gegenseitig, denn die Nacht hatte ihnen alles abverlangt. Schon von weitem begegneten ihnen misstrauische Blicke. Zwei Sicherheitsleute kamen ihnen sogar mit erhobenen Tasern entgegen. Sicherheitshalber blieb Elias stehen und hob die Hände.
»Bitte … Kein Grund zur Beunruhigung, wir … wir sind bloß gestern nicht mehr rechtzeitig hineingekommen.«
Ungläubig und noch immer skeptisch wurden sie in Empfang genommen. Jemand scannte ihre IDs und nachdem das System ihre Daten als valide auswarf, senkten die beiden Sicherheitsleute endlich die Taser und führten sie durch die Tore hinein in einen Überwachungsraum.
»Elias Bennett und Annie Collins, richtig?«, wollte einer von ihnen wissen. Elias nickte stumm.
»Ihr beide wart die ganze Nacht über an der Oberfläche?«
Elias nickte noch einmal.
»Kam es zu irgendwelchen Zwischenfällen?«
Abermals ein Nicken.
»Nun lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen, Junge! Kam es zu einem Kampf mit Jägern?«
Elias hasste es, bloß mit diesen anonymen Uniformen zu sprechen. Den Menschen unter dem chromfarbenen Helm sah man nicht. »Ja.«
Er schloss die Augen und atmete einmal ein und wieder aus. Wieso hatte das nicht Zeit, bis sie ihre Familien informiert und etwas gegessen hatten? In seinem Kopf drehte sich schon alles. Er wollte nur noch nach Hause. Doch er wusste, er würde diesem Verhör nicht entkommen. Stockend sprach er weiter: »Wir haben uns in einer der alten Ruinen in einem Keller versteckt. Dort wurden wir von den Jägern aufgespürt. Wir sind geflohen und sie hätten uns beinahe geschnappt. Wir sind nur durch einen glücklichen Zufall entkommen.«
»Was ist mit den Jägern geschehen?«
»Ich weiß nicht.« Elias runzelte die Stirn. »Vermutlich sind sie auf und davon. Oder sie sind noch immer in dem Loch, in das sie gefallen sind.«
Die beiden Sicherheitsleute wechselten bedeutungsvolle Blicke. »Welches Loch? Erzähl genauer.«
Müde erzählte Elias alles, woran er sich noch erinnern konnte. Viel war es nicht mehr, denn die Erschöpfung schlug nun, da sie außer Gefahr waren, erbarmungslos zu. Nur am Rande bekam er mit, dass die Männer auch Annie befragten, doch die sagte keinen Ton mehr. Kreidebleich saß sie auf ihrem Stuhl, die Tasse mit heißem Tee fest umklammert, die jemand ihr in die Hand gedrückt hatte, und starrte geradeaus.
Abwesend folgte Elias den aufgewühlten Sicherheitsleuten mit den Augen. Wie Ameisen liefen sie durcheinander, tauschten Blicke oder Worte. Befehle wurden barsch erteilt, doch keinen davon konnte Elias verstehen. Zahlenkombinationen, Codes oder einfach so schnell, dass sein müder Geist nicht folgen konnte. Es war ihm auch vollkommen egal. Er war fix und fertig. Irgendein Arzt untersuchte ihn von oben bis unten, aber konnte außer ein paar Prellungen und Schürfwunden keinen Schaden feststellen. Die offenen Stellen wurden desinfiziert und verbunden. Um seinen Kreislauf etwas zu stabilisieren, spritzte ihm jemand eine Zuckerlösung.
»Oh mein Gott, Elias! Ich hatte solche Angst um dich!« Elias sah auf, als er die Stimme erkannte. Mrs Marquez stürzte ihrem Sohn entgegen und schob den Arzt mit Nachdruck aus dem Weg. Jemand musste ihr Bescheid gegeben haben. Stürmisch drückte sie Elias an ihre Brust. Normalerweise fühlte er sich für solche Zuneigungsbekundungen zu alt, aber in diesem Fall erwiderte er die Umarmung mindestens ebenso heftig. Er hatte nicht daran geglaubt, die Nacht zu überleben.
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