Unter den Deutschen waren Menschen von Geist, aber mit dem verengten Gesichtsfeld derer, die vom eigenen Gemeinwesen losgerissen sind ohne Anschluss an das fremde, und die sich nun auf ein unfruchtbares allgemeines Neinsagen beschränken. Trotz meiner eigenen Enttäuschung über so manches, was ich im Reich gesehen hatte, quoll der Schmerz in mir hoch, eine ganze Anzahl feingebildeter Geister vor mir zu haben, die so gar nichts von jener Selbstbehauptung in sich trugen, ohne die ein Volk sich nicht auf die Dauer groß und frei erhalten kann, und die sich nicht entblödeten, vor ausländischen Ohren eine Kritik am Vaterlande zu üben, wie sie nur in den engen Kreis der Landsleute gehört. So kam es, dass ich eine Reihe von Fragen ins Gespräch warf, auf die es im Grunde keine Antwort gibt.
Wie kommt es, sagte ich, dass der Deutsche alle fremden Volksgebilde um ihre Geschlossenheit bewundert, dass er ihre Seelen in die seine aufnimmt und für ihre Rechte eintritt, und dass er der gleichen starken Empfindung für sein eigenes großes fast strotzendes Volk so wenig fähig ist? Oder wenn er sie in Augenblicken aufschwellender Inbrunst gehegt hat, warum verleugnet er sie gleich darauf und scheint sich ihrer zu schämen, als ob er damit einer höheren, nur ihm selber auferlegten Sendung untreu geworden wäre? Angegriffen, wehrt er sich jedes Mal wie ein Berserker, aber sobald der Sturm vorüber ist, verwirrt sich sein Gefühl; er zerfällt wieder mit sich und tut das Gegenteil von dem, was ihm an den andern schön ist: er gibt seinen Mittelpunkt auf, um ohne Pol im Leeren zu schweben. Liegt dieser Einstellung ein Unvermögen zugrunde, das vielleicht mit dem Mangel starker Landschaftsprofile und mit den allseitig offenen Grenzen zusammenhängt? Oder ist es vielmehr das Ahnen eines Weges zu höherer planetarischer Zukunft, den keiner als der Deutsche mit dieser Besonderheit finden kann und soll?
Die Unzufriedenen verstummten eine Weile. Dann sagte Gustav:
Es sind Geheimnisse. Goethe mag etwas davon geahnt haben, aber er durfte es nicht sagen. Immer muss ja die letzte Wahrheit stumm bleiben wie am Ostermahle des Herrn: Ihr könnet es für jetzt nicht tragen.
Diese Worte aus dem Johannisevangelium waren ganz offenbar mit Anführungszeichen gesprochen. Aber jetzt geschah etwas völlig Widersinniges und Unbegreifliches: Einer der Anwesenden, der ohnehin gegen Gustav geladen schien, bezog sie auf sich selbst und seine Umgebung. Es war einer jener poetischen Dilettanten, die sich an die Berufenen herandrängen, und wenn sie nicht die erwartete Aufmunterung finden, sich gern durch heimliche Feindseligkeit für den aufgewandten Weihrauch rächen. Gustav, bei seiner Unerbittlichkeit gegen sich und andere, mochte ihm ein besonders strenger Richter gewesen sein.
Als hätte er nur auf einen Anlass gewartet, fuhr er heraus:
Was wir tragen können oder nicht, haben Sie nicht zu entscheiden. Wir sind hier keine Schulkinder, die sich ihre Fähigkeiten vom Herrn Oberlehrer bezeugen lassen müssen.
Gustav, der sich niemals zum Einlenken und Begütigen herbeiließ, auch nicht, wenn man ihn augenscheinlich missverstand, sagte nur von oben herab:
Es wird mir wie jedem andern gestattet sein, meine Meinung über allgemeine Fragen zu äußern.
Aber jener, der seinen bisher stummen Groll schon stark mit Wein begossen hatte und daher nur die Schärfe des Tones, nicht den völlig arglosen Sinn der Rede fasste, wurde dadurch noch mehr gereizt, und als ich mich vermittelnd dazwischenlegte, warf sich der Störenfried plötzlich auf mich, indem er zornig rief:
Und von Ihnen lass’ ich mir keine undeutsche Gesinnung vorwerfen. Wenn ich am Reich zu tadeln finde, so ist es meine Sache: Ich hab’ es machen helfen. Ich habe mit der Waffe in der Hand meine Schuldigkeit getan, ich bin kein Drückeberger und Ausreißer.
Die letzten Worte schrie er plötzlich aufkochend so laut in das Stimmengewirr, dass es für einen Augenblick verstummte. Gustav erblasste bis über die Stirn. Ob die Worte einen Ausfall gegen ihn enthielten, möchte ich bei dem angedunkelten Zustand des Schreiers nicht einmal entscheiden. Jedenfalls nahm Gustav den mutmaßlichen Handschuh auf, indem er kalt und spöttisch sagte:
Leier und Schwert. Sie täten besser, Ihr umnebeltes Dichterhaupt in die Kissen zu legen, als uns mit Ihren Waffentaten zu unterhalten.
Das Wetterglas stand an jenem Abend augenscheinlich auf Sturm. Denn jetzt sagte eine hämische Stimme von der anderen Seite herüber:
Sprechen Sie für sich selber, aber nicht für uns, wir haben keinen Grund, Erinnerungen an das große Jahr zu meiden.
Ich weiß heute nicht mehr, wie der gänzlich sinnlose Streit, den ich nichtsahnend mit entfacht hatte, im einzelnen weiterging; sein jäher Ausbruch bezeugte einen schon lange aufgehäuften Zündstoff. Die Angriffe gegen Gustav vermehrten sich, die Fernersitzenden schienen ihn für den Schuldigen zu halten. Er schleuderte Jupitersblitze nach rechts und links, aber ich hörte nicht mehr, was er sagte, denn einer der Anwesenden, dem meine Reden vorzugsweise gegolten hatten, verwickelte mich in ein Einzelgefecht, dem ich nicht ausweichen konnte. Ich merkte nur, wie Gustav sich trotz seiner Selbstbeherrschung allmählich doch erhitzte, das Durcheinander der Stimmen wurde größer. Ein anwesender Schweizer, der zuvor auf Deutschland mitgestichelt und dadurch hauptsächlich meine Verwahrung veranlasst hatte, nahm plötzlich sein Glas und wanderte damit an einen Nebentisch aus, indem er halblaut erklärte, dass es kein Vergnügen sei, unter Renegaten zu sitzen. Die Beleidigung ging im allgemeinen Lärm unter, Wohlgesinnte schlugen sich ins Mittel und drängten zum Aufbruch, wodurch sie die Erzürntesten auseinanderschoben und alle zum Ausgang geschwemmt wurden. Nur der wein- und wehselige Dichterling blieb mit aufgestützten Ellbogen am Tisch zurück und weinte.
Nach diesem Auftritt war nicht ans Schlafengehen zu denken. Wir gingen die halbe Nacht am Seeufer auf und nieder, bald sturmgeschwind, bald mit stockenden Schritten, je nachdem seine Gedanken den unglücklichen Mann vorwärtspeitschten oder festhielten. Er sprach von »Genugtuung fordern«, aber eigentlich lag dazu kein zureichender Grund vor, denn nichts zwang ihn, die Anzüglichkeiten, die gefallen waren, als solche anzusehen, das Wortgefecht war wie ein Gewitter, das sich nur halb entladen hat. Man konnte nicht einmal wissen, wie viel diesen Menschen von Gustavs Schicksalen bekannt war; was ich am meisten zu hören gezittert hatte, der Name St. Hubert war nicht gefallen: Entweder sie wussten nichts von diesem Äußersten, oder Scham hielt auch die Berauschten zurück, die grässliche Wunde roh zu betasten. Dass er selbst sie kannte, erfuhr ich nun.
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