Ein paar Tage später hielten wir auf dem Piz Palü unsere Mittagsrast. Es war ein herzerfrischender Aufstieg bei scharfer Luft über Gletschereis und harsche Schneehalden gewesen, aber oben brannte die Sonne mit südlicher Glut. Wir tafelten unter zerstreuten Felsblöcken. Da zeigte mir Gustav einen schwarzen Punkt in der Ferne, der näher kam und über unsere Häupter hinschoss: einen Königsadler.
So leben können, seufzte der Einsame, immer die weit offenen Augen an die Sonne geheftet, fern von den Giftdünsten der Niederung, fern, fern von der Kulturschande unseres heutigen Theaterlebens.
Ich schenkte ihm den Rest des mitgebrachten Weines in den Becher:
Dein Alexander lebe! Dein Adlersohn! Und dein Arminius kehre zurück, sein Adlerbruder! Deine beiden Adlersöhne, mögen sie dich emportragen für immer in die Balsamluft der Höhen.
Auf des Dichters sonnengebräunten Wangen und in seinen schönen, verdüsterten Augen ging der Glanz seiner noch so jungen Jahre wieder auf. Er hob seinen Becher:
Auf unsre Dioskurenfreundschaft! Möge sie niemals welken. Viel hat mir das Leben genommen, um vieles hat es mich getäuscht, aber dich hat es mir geschenkt und bewahrt, das ist nicht wenig.
Wir errichteten auf der höchsten Stelle einen Steinmann und gaben ihm unsere Besuchskarten zu hüten.
Auch eine Art von Unsterblichkeit, meinte der Dichter scherzend. Freilich auf beschränkte Dauer, wie es die Unsterblichkeit an sich hat.
Beim Abstieg über den Cambrena-Gletscher ereignete sich ein Zwischenfall, der leicht uns beiden das Leben kosten konnte. Wir gingen angeseilt und mussten scharf aufmerken, weil der Schnee von der Sonnenglut erweicht war und unter unseren Füßen abrutschte. Schon hatten wir den schlimmsten Teil des Weges hinter uns, als plötzlich ein großer bunter Schmetterling, der sich, Gott weiß wie, da herauf verirrt hatte, an mir vorüberflatterte – in solcher Höhe und mit der leuchtenden Farbenpracht in all dem Weiß eine wahre Wundererscheinung. Ich starrte ihm betroffen nach, glitt aus und kam ins Abrutschen, bis ich mit dem Fuß an etwas Hartes stieß, wobei ich eine heftige Sehnenzerrung erlitt.
Der jähe Ruck des Seiles riss auch den Freund, der mir folgte, ein Stück weit mit sich. Aber es gelang ihm einen Halt zu finden und das Seil um einen vorspringenden Stein zu schlingen. Dann schlug er unter mir mit Kraft den Pickel ein, dass mein gesunder Fuß eine Stütze fand, und zog mich zu einem kleinen Felsblock, der aus dem Eis ragte. Da saß ich und der Schmerz war so grausam, dass die Welt mit mir im Kreise ging. Er goss mir allen noch übrigen Kognak ein, weil ich am ganzen Körper zitterte, und umwickelte den verletzten Fuß mit einer festen Binde. Währenddessen verdunkelte sich plötzlich der Himmel, die schon schrägstehende Sonne verschwand hinter einem weißlichen Schleier, und einzelne Schneeflocken fielen. Wenn das Wehen zunahm, wurden unsere gehauenen Tritte zugedeckt, und unter dem Neuschnee konnte der Abstieg auch für den Unverletzten bedenklich werden. Ich bat ihn mich da zu lassen, allein zu gehen und aus dem Tal Hilfe zu schicken.
Die hätte schwer dich zu finden in der frühen Dunkelheit, und bis zu ihrer Ankunft hättest du Zeit zu erfrieren, sagte er.
In der Tat hatte nun auch aufs neue ein scharfer Wind eingesetzt, der den frischen Schnee zum Teil in Glatteis verwandelte, und es wurde schneidend kalt. Aber ich wollte mich lieber der Strafe meiner Unachtsamkeit aussetzen, als den Freund jetzt eben im Hochflug seiner neuen Pläne und Hoffnungen möglicherweise mit mir ins Verderben ziehen.
Das wäre eine würdige Dioskurenfreundschaft, lächelte er. Begreifst du noch immer nicht, was du in meinem Leben bedeutest? Glaub’ mir, ich weiß, wie meine Rechnung steht. Einen Freund gewinne ich mir nimmermehr und suche auch keinen, also muss ich mit dem, was ich habe, sparsam sein. Aber Feinde hoffe ich noch manche zu finden. Gott schenke mir deren recht viele, damit ich nicht länger brauche mein eigener Feind zu sein.
Es wehte stärker, und die wachsende Gefahr schien ihn nur heller und froher zu machen.
Und Frau Angela? Wie soll ich der unter die Augen treten, wenn ich dich hier verlasse? sagte er, als ich noch immer beharrte.
Da war ich geschlagen. Er presste mir den umwickelten Fuß in den aufgeschnittenen Stiefel, und mit Gottes Hilfe erreichte ich teils bäuchlings rutschend, teils unter der Achsel gehalten und geschleppt, den Talgrund. Zum Glück kam man uns; durch unser Ausbleiben beunruhigt, mit Laternen entgegen und brachte mich mit vereinigten Kräften unter Dach. Als wir im Hospiz eintrafen, war es Nacht.
Gustav ging trotz der Ermüdung nicht zur Ruhe, er saß bis zum Morgen an meinem Bett, machte Umschläge mit Schneewasser und erwärmte mich durch heißen Tee. Ich hatte ihn für ungeeignet zu solchen Handreichungen gehalten und fand nun das Gegenteil. Die soldatische Erziehung zum Zugreifen und Ausdauern hatte sich segensreich erwiesen. Der sonst so Zerstreute, Gleichgültige war unermüdlich in kleinen Aufmerksamkeiten, die Erleichterung schafften, und erriet mit frauenhaftem Einfühlen alle meine Bedürfnisse.
Noch im Hospiz brachte er die Sterbeszene Alexanders zu Papier, wie sie ihm bruchstückweise während des Steigens aufgegangen war, und ließ mich nach seiner Art gleich daran teilhaben. Sie passte in ihrer Großheit zu dem herzerweiternden Blick, der sich uns droben aufgetan hatte. Ich erinnere mich noch, dass dem sterbenden Welteroberer der tote Brahmane wieder erschien mit einem Häufchen Asche in der Hand, die ungesuchte Symbolik, die Goethe als ein Höchstes von der dramatischen Dichtung forderte.
Die Heimfahrt war kein Vergnügen für den schmerzenden Fuß, aber für die Freundschaft war sie ein Triumph: der Zerschundene führte einen Genesenden nach Hause. Die innere Verkrampfung hatte sich gelöst und sogar das Gesicht von seiner maskenhaften Starrheit entbunden.
Allein die Dämonen, die Unheil wollten, waren inzwischen am Werke gewesen, und es ging wie mit einem rinnenden Sack, der, während man ihn auf einer Seite stopfen will, an der anderen aufbricht. Als wir in Zürich anlangten, rang Selma mit dem Tode.
Sie hatte am Abend nach unserer Abreise einen ihrer größten Siege gefeiert. Man gab ein heute vergessenes Rührstück französischer Mache, das damals alle Spießbürger der alten und neuen Welt entzückte. Nach dem Kunstwert fragte sie nicht, sie spielte sich selber. Ein leidenschaftlicher Ehezwist, eine Frau, die sich für den Gatten, der sie misskennt, opfern will, mehr brauchte sie nicht, um ihr Unmittelbarstes und Eigenstes zu geben und in die Rolle eine innere Wahrheit zu legen, von der der Verfasser nichts wusste. Sie muss an diesem Abend hinreißend schön gewesen sein. Die Erregung des Spiels und des Triumphs gab ihr allen Jugendzauber wieder, veredelt und verfeinert durch einen Zug heimlichen Leides, der zum Stück zu gehören schien. In einem Zwischenakt, als Angela, die trotz der dürftigen Fabel tief ergriffen war, sie im Künstlerzimmer beglückwünschte, wurde ein wunderbares Blumengebinde hereingebracht mit einer Besuchskarte: Dr. Heinrich Sommer, Assistenzarzt an, ich weiß nicht mehr welcher Berliner Klinik.
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