Ehe er schied, brachte Gustav mir seinen »Befreier« in der neuen Fassung.
Du hast jetzt Zeit und Sammlung zum Lesen, sagte er ernst; lies und sage mir dann klar und offen, wie ich dich kenne, was du davon hältst. Dein Urteil soll mir ein Gottesurteil sein.
Ich las einen ganzen Tag und eine halbe Nacht, und als ich fertig war, las ich zum zweiten Mal. Es war die alte, bezwingende Sprache, vielleicht in noch gesteigerter Kraft, es waren die Gestalten, an denen ich mich einmal berauscht hatte. Aber ein seltsames Dämmerlicht umschwankte sie, entkleidete sie ihrer Unmittelbarkeit und überzeugenden Nähe. Oder lag es an mir, dass ich, um soviel älter geworden, die erste jugendliche Begeisterung nicht mehr aufbringen konnte? Nein, es lag an der Sache. Zwar der Anfang war fast derselbe geblieben, und auch die »Varusschlacht« hatte noch viel von ihrer alten Größe, aber den dritten Teil, den Tod des Befreiers, konnte ich nur als völlig misslungen betrachten. Die Vorstellung, dass Arminius kein anderer als Siegfried sei, hatte gewiss etwas Bestechendes und war ja dem Dichter schon früher nahegetreten; jetzt wurde sie Anlass, dass sich alles trübte und verwirrte. Die beiden ersten Teile standen noch im hellen Licht der Geschichte, der dritte verlor sich ins Mythisch-Mystische. Die erschlagene Alraune, Wotan und die Siegsgöttinnen waren in der »Varusschlacht« nur Mittel gewesen, die der von hellenisch-römischem Geist berührte Cheruskerfürst brauchte, um sein Volk aufzurütteln. Im dritten Teile spielten sie leibhaft herein. Der vernichtete Varus spukte in Gestalt des Drachen Fafner verwirrend herum. War’s nicht, um ernstlich an dämonische Einflüsse zu glauben? Der Gedanke, aus dem das Unglück des Oheims geflossen war, sollte auch dem Neffen zum Verhängnis werden. Sein Werk hatte sich rächend gegen ihn selbst gewandt. Nicht seine Innenkraft hatte versagt, sie ging nur fehl, weil sie nicht mehr von der natürlichen Quelle gespeist war. Wie hatte er doch selbst einmal bei Molfetta im Hinblick auf die Griechen geurteilt? Große Dichtung, sagte er, ist nicht das Werk eines Eigenbrötlers, an der großen Dichtung schafft ein ganzes Volk. Jetzt war er losgerissen von seinem Volk, er büßte seine Entfremdung von Heimat und Leben. Das Schlimmste war, dass er, um einen Ausgleich zwischen den beiden verschiedenen Auffassungen des Cheruskers herzustellen, nachträglich die Varusschlacht im gleichen Sinne überarbeitet und damit das fertige Stück zwar auf geistreiche Weise, aber höchst verderblich entstellt hatte. Wohl lag auch noch in dieser abgeirrten Fassung reiches poetisches Gold ausgeschüttet, aber als Ganzes war das Werk eine Missgeburt.
Als ich fertig war, gab ich, ohne irgendeine Meinung zu äußern, die Blätter an Angela, die keine geeichten Kunstmaße, aber ein sehr lebendiges, angeborenes Gefühl für poetische Werte besaß.
Sie las entzückt und hingerissen. Aber von Zeit zu Zeit ließ sie das Blatt mit einem »Das verstehe ich nicht« sinken. Als sie zu Ende war, blätterte sie zurück, wie ich es getan hatte, und sagte dann ganz bestürzt und verwirrt:
Aber das sind ja unmögliche Dinge.
Es waren in der Tat unmögliche Dinge. Und ich stand vor der Aufgabe, ihm das zu sagen, denn von mir erwartete er die Wahrheit! Der unglückliche Mann hing jetzt, wie ich vor wenigen Tagen auf dem Gletscherhang, zwischen Sein und Nichtsein. Und ich, statt zu tun, was er getan hatte, dem Freund einen Halt zu geben, ich sollte ihn hinunterstoßen! Es gibt keine Zeit in meinem Leben, wo ich mehr gelitten hätte als damals. Auch die schwersten Lagen hatten sonst immer noch das Gute, dass der Weg unweigerlich vorgezeichnet war. Hier standen zwei Wege offen, die beide ins Verderben führten. Welchen sollte ich gehen? Ich hatte Augenblicke, wo ich wünschte, er hätte mich in den weißen Abgrund rollen lassen.
Angela sagte: Wenn er so groß ist, wie ich ihn halte, wird er die Wahrheit hören können.
Das wird er freilich, entgegnete ich, aber wie wird sie auf ihn wirken, jetzt, in diesem traurigen Augenblick?
Und doch bleibt dir nichts andres übrig, da er sie von dir erwartet, meinte sie. Schweigen wäre schlimmer, und das Schlimmste: ihn auf dem Irrweg weitergehen zu lassen.
Tag und Nacht ging es in mir auf und ab: Was sage ich? Wie sage ich’s? Und sollte ich wirklich sprechen, da ihm ja doch nicht zu helfen war? Ich sah bereits auch die Alexandertragödie ahnend ins Uferlose zerrinnen. Der Brahmane auf dem Scheiterhaufen hatte mir’s angetan. Sein Wiedererscheinen in Babylon, wie er dem fiebernden Alexander die Hand voll Asche hinreicht, schien mir ein echter Dichterfund. Aber würde es bei dieser Symbolik sein Bewenden haben? Was würde der alte Grübler bei der letzten Fassung von dem Urgegebenen übriglassen? Würde es überhaupt eine letzte Fassung geben oder würde man auch von diesem Werke sagen müssen: Alles fließt? Nie verstand ich besser den Spruch: Weniger ist mehr. Nur ein kleines an Selbstbeschränkung, an Zurückdämmen des Urfeuers, und es wären dauernde Werke geschaffen worden. Es war der alte Schaden des Zu viel, den er selber ehedem am deutschen Genius gerügt hatte. War da von der Aussprache irgendein Gewinn zu erwarten? Fühlte er nicht mit seinem feinen Kunstempfinden schon alles, was ich ihm sagen konnte, heimlich selbst?
Die Nachrichten aus La Tour flossen spärlich, und durch alle klang ein unausgesprochenes Schreckenswort. Nur zu Anfang musste in den schmeichlerischen Sonnenlüften eine kurze Besserung eingetreten sein, die nicht von Bestand war. Die Kranke sehnte sich nach Angela. Die Ärmste besaß weder Mutter noch Schwester, und von den Kunstgenossinnen an der Bühne hatte sie sich immer ferngehalten, um in keine Händel hineingezogen zu werden. Was eine Frau der andern sein kann, das hatte sie erst jetzt erfahren.
Sei, was du heißest, schrieb sie an Angela, und komm zu deinem verlorenen Schwesterlein.
Zuweilen unterschrieb sie sich Perdita, ein Name, mit dem sie irgendeine nicht ausgesprochene Bedeutung verknüpfte.
In La Tour de Peilz holte Ruhland uns an dem kleinen Bahnhof ab. Auf die bange Frage nach Frau Selmas Befinden hob er die Schultern hoch und schwieg bedeutsam. Man konnte sehen, wie es ihn in der Kehle würgte. Sie war ihm ja, wie ich von ihr selber wusste, einmal sehr teuer gewesen.
Dann sagte er möglichst sachlich und trocken: Der Krankheitsherd breitet sich nach Ansicht des Arztes mit großer Geschwindigkeit aus.
Als ich nach dem Gatten fragte, ein neues Achselzucken:
Er will jetzt zu viel tun, wo er vorher zuwenig tat. Aber ich zweifle, ob er der Kranken damit eine Erquickung bereitet. Es wird gut sein, wenn jetzt ein Frauenauge über ihr wacht.
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