Ihr hattet damals recht, du und Kuno, brach es auf einmal ohne Übergang aus ihm heraus. – Es wäre besser, ich faulte in der stillen Grube bei Gravelotte, und mein Arminius ginge, wenn auch nur als Torso, über die Bretter; als Werk eines Gefallenen hätte er vielleicht seinen Weg besser gemacht.
Ich weiß nicht, ob wir recht hatten, sagte ich. Auch Kuno hat unterdessen umgelernt. Du unterstehst einem anderen Richter als unsereiner. Wie du nicht frei bist in deinen Entschlüssen, sondern so musst wie dein Herr und Despot gebietet, so bist du letzten Endes auch nur ihm Rechenschaft schuldig. Dein Werk ist dein Freispruch.
So dachte ich auch, aber auf eines war ich nicht gefasst, und die Toten behalten immer das letzte Wort.
Es gibt kein letztes Wort, Gustav, sagte ich. Solche Dinge wechseln ihr Gesicht mit jedem neuen Standpunkt, aus dem man sie betrachtet. Das Leben ist ein endloses Umgestalten, wo jedes neugesprochene Wort das vorangegangene aufheben kann. Jener Tote war groß, er stand auf seinem Boden wie ein Vorzeitriese. Steh’ du so fest und groß auf dem deinigen, so kann er dir nichts anhaben!
Du vergissest nur, und ich hatte es selbst vergessen, dass ich vom gleichen Blute bin und dass die Gefühlswerte unserer Vorfahren immer von Zeit zu Zeit in uns erwachen. Was ist es andres als das Ahnenblut, was jetzt in mir tobt und nach einem Kugelwechsel mit jenen Tröpfen lechzt, weil es sonst keine Ruhe finden kann. Und doch hast du recht: Ich wüsste eine Herausforderung nicht einmal zu formulieren.
Sie gäbe das allerschädlichste Ärgernis und brächte eine ganze Lawine ins Rollen. Du musst jetzt zeigen, dass du von deiner Höhe auf die Meinung der Welt herabsehen kannst, wie du es auf deiner grünen Alp überm Bodensee tatest.
Gustav starrte in das Wasser, das spiegelnd im hellen Mondlicht lag.
Mein alter Widerdämon ist von neuem am Werk, sagte er düster. Immer lauert er dann, wenn ich des inneren Lebens am vollsten bin, um es mir zu rauben. Ich kam so erfrischt aus der Balsamluft der Höhen. Mein Alexander war mir so nahe, ich konnte ihm in die Augen sehen, er sprühte von Macht und Lebensfülle. Und im Hintergrund regte sich schon ein Friedericus, ganz leibhaft, Mensch und Halbgott, ich musste ihn zurückbannen, damit er mir nicht den Alexander störe, aber zuvor hielt ich noch sein Persönlichstes fest.
Er wurde endlich ruhiger und willigte zuletzt in meinen Vorschlag, noch auf einige Tage mit mir ins Hochgebirge zu gehen; ich erbat es mir als Freundschaftsbeweis für mich, da ich seit so langem keinen Berg bestiegen hätte und körperliche Bewegung mir ein Bedürfnis sei. In aller Frühe fuhren wir ab, Selma, die am Abend aufzutreten hatte und deshalb ihren Teil vorwegschlief, erfuhr unser Fortgehen erst mehrere Stunden später.
*
Als wir zusammen im Berninagebiet wanderten, kamen noch einmal Götterstunden unserer Freundschaft. Der Sohn der Mark war in der Tat einer der ersten Bergsteiger geworden, es war eine Lust, ihn gemsenartig springen und klettern oder pfeilgeschwind über Eishänge niederschießen zu sehen. Und doch – wie oft musste er in seiner Zerrissenheit das Leben, das ihm in den hohen Schaffensstunden so kostbar war, geflissentlich aufs Spiel gesetzt haben, bis er diese Sicherheit gewann, die einem nur zum Sportsmann Geborenen Ehre gemacht hätte. Ohne Zaudern vertraute ich mein Leben, das ja erst jetzt Sinn und Wert erlangt hatte, seiner Erfahrung an, wenn auch die Begegnenden, die uns führerlos ausziehn sahen, die Köpfe schüttelten.
Wir machten mit Kleinem den Anfang, da ich gänzlich außer Übung war. Von der Alp Grüm und Sassal Mason sahen wir entzückten Blicks dem Lauf des Puschlav nach ins Land Italien hinunter, wo die Veltliner Alpen, schön gewölbt und flimmernd wie eine Diamantenkrone, den fernen Hintergrund schlossen.
Wer da hinunter dürfte, sagte Gustav sehnsüchtig. So gut wollte es mir niemals werden. Aber es wird noch, es wird! Lass nur erst den Alexander fertig sein, dann schenke ich mir und Selma vier Wochen Sonne und Jugend.
Unerschöpfliche Gabe der Selbsttäuschung, was wäre das Leben ohne dich! Auch ich ließ mich wieder einmal vom Fluge seiner Fantasie fortreißen und glaubte mit ihm an das nahe Gelingen des großen Wurfes.
Mit schöner Treue sprach er noch einmal von den gemeinsamen Jugendtagen und von seinem unvergessenen Olaf Hansen. Er hielt ihm eine Gedächtnisrede wie damals am offenen Grab.
Ein schöneres Wesen, sagte er, ist der Natur nie gelungen. Er holte das Glück aus seinem eigenen Inneren und teilte es aus. Er bedurfte nichts, er hatte nur immer zu geben, ob es die kleinen Ersparnisse seiner Westentasche oder die großen Schätze seiner Seele waren. Ihn machte der bloße Wechsel von Tag und Nacht, der ihn auf seiner Welle mittrug, froh und dankbar, er hat ihn ergreifend besungen. Ein Blick aus den dunklen Augen Adeles versetzte ihn unter die Götter. – Die alten Inder erzählten, im ersten, dem Goldenen Weltalter seien die Menschen so fromm gewesen, dass sie gar keine Religion kannten: sie waren eins mit dem Göttlichen. Erst nach ihrem Abfall, als sie in Not und Elend wieder zur Gottheit zurückverlangten, da begannen sie Tempel zu bauen und Opfer darzubringen. So wie jene Frühen war Olaf. Er ging nie zur Kirche, er trug unbewusst die Kirche in sich, er selbst war dauernder Gottesdienst, aufdampfender Weihrauch dem großen Unsichtbaren. Wenn er noch lebte, ich glaube, ich wäre ein harmonischerer Mensch geworden.
Gustav, sagte ich bedeutsam, du hast ein Wesen neben dir, das an unbefangener Nahrhaftigkeit nicht hinter Olaf zurücksteht.
Ja, naturhaft ist sie, antwortete er nach denklich. Vielleicht zu sehr. Könnte sie sich nach Frau Angela modeln, an der sie sieht, wie sehr man Natur bleiben und doch verfeinertes Seelenwesen werden kann. Ich wollte, die beiden Frauen hätten sich früher gekannt. Aber du hast recht: Selma hätte einen besseren Mann verdient. Gott helfe ihr, ich kann ihr nicht helfen.
Ich rechnete es ihm hoch an, dass er die schwerste Last seines Lebens ganz allein trug, ohne seiner Schicksalsgenossin ihren Anteil aufzubürden. Er ließ mich versprechen, ihr die Ereignisse von St. Hubert, soweit es an mir liege, für immer zu verheimlichen, auch über seinen Tod hinaus, für den Fall, dass sie, wie er annahm, ihn überleben würde.
Sie könnte sich sonst mitschuldig fühlen, weil sie durch ihr Verschweigen den ersten Anlass zu meiner Entscheidung gab, und das soll sie nicht. Ich trage allein die Verantwortung, wie ich allein gewählt und beschlossen habe.
Vielleicht wirkte der männliche Hochmut mit, dass er der schwachen Frau keinen Teil an einem so schwerwiegenden Entschlusse zuerkennen mochte. Aber dieses Schweigen im täglichen Zusammenleben durch Jahre fortzusetzen, erforderte eine schonende Selbstüberwindung, die in meinen Augen viel von dem, was er an Selma verbrach, gutmachte. Freilich wurde das Geheimnis, das zwischen ihnen lag, auch Ursache ihrer Entfremdung; es scheint, dass eine seltsame, fast körperliche Abstoßung ihn von der Frau entfernt hielt, die ahnungslos, welch grauenhafte Folgen in der weiteren Verkettung aus ihrem ersten Tun erwachsen waren, an seiner Seite hinlebte.
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