Selma stieß einen Jubelruf aus: Mein alter Freund und Verehrer! Wie mich das freut! Warum zeigt er sich nicht selber?
Sie hatte noch nicht ausgesprochen, so schob sich ein blatternarbiges Gesicht zur Tür herein, und Angela, die dem Ausgang zunächst stand, begrüßte ihren ehemaligen Vorgesetzten aus dem Lazarett La Gloriette.
Selma eilte ihm entgegen und schüttelte ihm mit voller Herzlichkeit beide Hände.
Ich komme gerade von der Bahn, sagte er, aber als ich an den Anschlagsäulen las, dass Sie heute Abend auftreten, ging ich nur schnell in den Gasthof, um die Kleider zu wechseln und fuhr dann gleich hierher. Diesen Glücksfall hätte ich um alles in der Welt nicht versäumen mögen.
Selma spielte weiter und gab sich immer glühender und hinreißender aus. Die Gegenwart dieses Zeugen ihres Jugendglanzes entband alles verhaltene Lebensgefühl in ihr.
Herrlich, herrlich, sagte Sommer immer aufs neue zu Angela und fiel durch die Stärke seines Beifallklatschens allgemein auf. Nach jedem Aktschluss drängte er sich aufs neue an die Künstlerin heran.
Das geht über die Stuttgarter Tage, sagte er ihr. Sie haben die Selma überselmat. Ganz Berlin hat keine Künstlerin, die sich neben Sie stellen dürfte.
Selma strahlte. Die Bewunderung des alten Verehrers hob sie für einen Abend aus allem Leid ihrer Ehe hinaus, machte sie wieder jung und selig. Dass der Ankömmling mit keinem Wort nach ihrem Gatten fragte, muss ihr gar nicht aufgefallen sein.
Sommer wünschte nach Theaterschluss die Damen zum Abendbrot in ein bekanntes Weinhaus zu führen. Aber Angela kam zuvor, indem sie ihn und Selma zu sich in den Gasthof einlud. Beide nahmen mit Freuden an, und Selma wiegte sich den ganzen Abend entzückt in den gemeinsamen Erinnerungen an die Glanzzeit ihrer Jugend, die Sommer vor ihr ausbreitete, an das liebe Schwabenland, wo man sie so warm gehalten hatte. Dann begleitete Sommer sie nach Hause.
Angela, die ein starkes Vorgefühl für nahende Ereignisse besaß, verbrachte die Nacht voll Unruhe, so gingen ihr in der Erinnerung die Blicke nach, mit denen ihr Gast jeder Bewegung der Künstlerin gefolgt war. Der persönliche Charakter dieses Mannes, den sie nur als pflichttreuen Arzt kennengelernt hatte, war ihr durch meine und Kunos Andeutungen verdächtig geworden. Wenn sie ihn auch keiner Niedertracht fähig hielt, so war ihr doch nicht wohl dabei, ihn unter vier Augen mit Selma zu wissen.
Diese hatte sich schon beim Abendessen, als von ihrer heutigen Rolle die Rede war, Andeutungen entschlüpfen lassen, die man auf ein gestörtes Eheverhältnis beziehen konnte, und Angela war nur immer bestrebt gewesen, den Sinn ihrer Worte ins Allgemeine umzudeuten und abzulenken. Auf dem Nachhauseweg mochte sie dann in ihrer hemmungslosen Art gegen den Mann, den sie für den ergebenen Freund ihres Gatten hielt, noch deutlicher geworden sein und er diese Offenherzigkeit für ein Entgegenkommen im Sinn seiner alten, längst begrabenen Wünsche und Hoffnungen genommen haben. Statt der beabsichtigten Weiterreise machte er ein Wiedersehen für den nächsten Tag aus, und Selmas Kindersinn ging mit Entzücken auf seinen Vorschlag einer Wagenfahrt am Seeufer mit anschließender Einkehr in einer beliebten Gaststätte draußen im Grünen ein. Vielleicht spielte ein gewisser heimlicher Trotz gegen Gustav, für den es keine Erholung als in Männergesellschaft gab, dabei mit, denn ich bin gewiss – und die tiefer blickende Angela war es gleichfalls –, dass die Ärmste niemals eine Hinneigung für Sommer empfunden hat, sie ließ sich einfach vom Augenblick tragen.
Angela aber sorgte sich, ob Sommer nichts gegen Gustav im Schilde führe und ob er wirklich abgereist sei. Sie wollte gleich am Morgen zu Selma fahren, wurde aber durch den Besuch einer Jugendbekannten, die zufällig von ihrer Anwesenheit gehört hatte, aufgehalten. Als sie nach einem Gang mit diesem bei der Künstlerin vorsprach, hieß es, die gnädige Frau sei mit einem fremden Herrn weggefahren. Betreten kehrte sie in den Gasthof zurück und hörte dort, dass die zwei sie hatten abholen wollen; es war die Bedingung, an die Selma ihr Mitfahren geknüpft hatte. Da die dritte nicht zu haben war, konnte sie nicht mehr umkehren und setzte ihre Fahrt allein mit Sommer fort.
Was an dem unseligen Tage zwischen den Beiden vorging, hat man nie genau erfahren. Ohne Zweifel wollte er die einst auch von ihm umworbene Frau von dem Manne, der sie eingestandenermaßen nicht glücklich machte und den er auch nach seinem kurzen Sinn ihrer unwürdig hielt, losreißen und vorübergehend oder dauernd an sich ziehen. Selma widerstand, er wurde dringender, und da sie ihn empört in seine Schranken wies, muss er ihr in einem Ausbruch plötzlicher Roheit die Vorgänge aus dem Feldlazarett von Gravelotte ins Gesicht geworfen haben, die Gustav ihr verheimlichte. Möglich, dass er ihr sogar in seiner Wut mit einer Veröffentlichung drohte, die ihres Gatten bürgerliche Stellung vernichtet hätte. Das plötzliche Wegreißen dieses Schleiers und die Erkenntnis, wohin ihr Einfluss den immer noch leidenschaftlich geliebten Mann geführt hatte, muss tödlich gewirkt haben. Am späten Nachmittag fuhr ein Wagen im langsamsten Schritt an Gustavs Hause vor, und eine fast leblose Gestalt wurde von Sommer und einem unterwegs angerufenen Arzt vorsichtig die Treppe hinaufgetragen. Eine Viertelstunde später gab der erstere beim Vorüberfahren an unserm Gasthof zwei eilig gekritzelte Zeilen ab:
Ihre Freundin, die schon lange leidend zu sein scheint, hat unterwegs einen Blutsturz erlitten. Begeben Sie sich schleunigst zu ihr. Ich musste sie den Händen eines Kollegen überlassen, da meine Weiterreise unaufschieblich ist. Sagen Sie ihr, sobald sie zu hören fähig ist, dass ihrem Gatten von mir keine Gefahr droht.
Meine Frau fand Selma im Morphiumschlaf und ließ sich als helfender Engel an ihrem Bette nieder, von dem sie nur wich, um an das meinige zu eilen, nachdem Gustav mich im Gasthof abgeliefert hatte. Dort lag ich dann drei Wochen mit ausgestrecktem Fuß untätig, ohne den schwer bedrängten Freunden helfen zu können.
Mit dem Gesicht eines Verzweifelnden erschien Gustav an meinem Lager. Denn er liebte Selma doch, und mehr, als er selber gewusst hatte. Seit er in die Gefahr, sie zu verlieren, blickte, ging ihm auf, was er an ihr besaß und was er bisher vor seinem inneren Wühlen übersehen hatte. Diesmal klagte er auch nicht über die Dämonen, die sich aufs neue gegen sein Schaffen verschworen, er sprach nur von Selma. Täglich wenigstens einmal holte er Angela weg, weil die Kranke sich nach ihrer weichen Stimme und ihren linden Händen sehnte. Als sich nach langen vierzehn Tagen ihr Zustand zu bessern schien, und man daran denken konnte, sie in die mildere Luft des Genfer Sees zu bringen, fuhr er nach Montreux voraus, wo er vergeblich ein Unterkommen für die Kranke suchte. Ein freundlicher Zufall führte ihm jedoch seinen alten Freund und Anhänger Dr. Ruhland in den Weg, der sich einer schwachen Lunge wegen am See aufhielt, und dieser fand ihm in dem gleichfalls windgeschützten kleinen La Tour de Peilz ein schönes sonniges Stockwerk unmittelbar am Wasser. Dorthin brachte er die Kranke in Gesellschaft einer geschulten Wärterin und der vertrauten Magd. Dass wir nachfolgen würden, sobald mein Fuß es gestattete, verstand sich von selbst und war schon bei Übernahme der Doppelwohnung vorgesehen. Die beiden Frauen trennten sich mit Leid, doch verlangte Selma in ihrer Schwäche nach keiner Aussprache mehr; nur die Botschaft Sommers hatte Angela ihr noch tröstend zugeflüstert.
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