Meine erste Frage hatte natürlich dem Dichter und seinem Werke gegolten. Kuno zog zuerst die Schultern hoch und schwieg.
Er lebt in Zürich, sagte er dann. Selma ist dort am Stadttheater angestellt und entzückt in ihren oberflächlichen Glanzrollen die Züricher wie zuvor die Stuttgarter. Sie hat sich aber ins künstlerische entwickelt, Dank dem Einfluss ihres Mannes.
Du sprichst von Selma, sagte ich verwundert. Aber Gustav?
Was willst du, er hat im Ausland keinen leichten Stand. In der Schweiz weht für uns Deutsche eine etwas kühle Luft, zumal für Norddeutsche. Und dabei ist man doch den mit der Heimat Zerfallenen nicht gewogen.
Und seine Dichtung?
Nun erfuhr ich etwas Merkwürdiges, das Kuno nur zufällig aus der Zeitung wusste. An einem Berliner Theater war bald nach dem Friedensschluss ein Hermannsdrama aufgeführt worden unter dem Titel »Der Befreier«, dessen Verfasser sich Max Berka nannte, das aber nach der Inhaltsangabe und den darin vorkommenden Namen nichts anderes sein konnte, als die stark zusammengezogene und verstümmelte »Varusschlacht« von Gustav Borck. An jenem Abend war es zu einem Theaterskandal gekommen, der sich vom Zuschauerraum in die Presse fortsetzte. Was in unseren Augen der höchste Adel des Stückes gewesen, die homerische Gerechtigkeit gegen Freund und Feind, das gereichte ihm in der Nachkriegsluft bei einer erfolgberauschten Mehrheit, die ohnehin für die poetischen Schönheiten blind war, zum Vorwurf, während eine politisch unzufriedene Minderheit die reine parteilose Kunst für ihre Zwecke umdeutete und dem Dichter Absichten unterschob, die er erst recht nicht hatte. Der angebliche Verfasser erhielt durch spitze Erklärungen und Gegenerklärungen den Streit aufrecht, bis sein Name oft genug durch die Blätter gegangen war, um im Gedächtnis der Reichshauptstadt zu haften und ihm einen literarischen Anhang zu sichern. Aber das Stück wurde schon nach der zweiten Aufführung vom Spielplan abgesetzt, und bald danach verschwand der Herr, der sich Dr. Berka nannte, nachdem ihm verschiedene literarische Diebstähle und andere unsaubere Machenschaften nachgewiesen waren. Mit ihm verschwand auch das Werk, von dem nun mit einemmal die Rede ging, dass es einen ganz anderen Verfasser habe. Kuno hatte das alles festgestellt und sich dann nach Zürich gewandt mit der Anfrage, ob dem Dichter diese Vorgänge bekannt seien, hatte aber gar keine Antwort erhalten.
Berka? Berka? Woher kenne ich diesen Namens ging es mir durch den Kopf. Da stellte sich plötzlich ein Gesicht, an das ich seit Jahren nicht gedacht hatte, vor mein inneres Auge, ein unruhiges und unerfreuliches Gesicht, über das es von Zeit zu Zeit wie ein Kribbeln von Ameisen lief, und jener Geistesschmarotzer, der sich in der Stuttgarter Zeit in Gustavs Künstlertum eingefressen hatte, stand wieder vor mir.
Er hat die Handschrift gestohlen, fuhr ich heraus.
Das nicht, war die Antwort. Ich weiß aus sicherer Quelle, dass Gustav mit ihm einverstanden war. Er wagte als Fahnenflüchtiger nicht, das Werk unter seinem Namen auf die Bühne zu bringen.
Weiß er denn, was in St. Hubert geschah? fragte ich zögernd.
Ich glaube nein, und möge er es nie erfahren. Er hat keine Beziehungen zu seiner Heimat und zu seinen ehemaligen Kameraden. Und Selma umgibt den Traumwandler unermüdlich mit Schutzwehren. Höre, dieser Frau habe ich Unrecht getan und bitte es ihr im stillen ab. Solch ein stündliches Opferbringen und Aufgeben der eigenen Persönlichkeit für einen, der es nicht einmal bemerkt, solch ein immerwährendes Sorgen und Behüten macht manche Torheit gut. Und war sie nicht im Recht, als sie ihm riet, die Pflicht des Genius über die des Alltagsmenschen zu stellen? Jetzt aber steht er heimatlos und rechtlos im Leeren und kann sein Werk nicht durchsetzen. Hätte er das bedacht, so wäre er doch vielleicht den anderen Weg gegangen, wandte ich ein.
Das Große setzt sich bei uns nie auf Einen Schlag durch, dafür hat es auch Zeit zu warten, sagte er. Die Hauptsache war doch, dass es entstand , besser gesagt, dass es aus den Tiefen geholt wurde, wo es fertig lag und wohin kein anderer den Schlüssel hatte. Ich glaubte ja auch einmal ihn meistern und lehren zu können und tappte selber im Dunkeln. Damals hatte ich die Weihen noch nicht. Jetzt sehe ich anders. Er sah von jeher anders, weil er auf einer anderen Ebene lebte. Jeder hat Recht auf der Ebene, wo er steht. Die Ebenen liegen stufenweise übereinander.
Ich wunderte mich, den Mann, dessen Vaterlandsgefühl sonst immer bis zum Überkochen erhitzt war, so reden zu hören.
Wie kann der Geistesjünger sein Herz an ein einziges Land hängen, war seine Antwort, wenn er doch weiß, dass er in jedem Land der Erde schon einmal geboren war oder es werden kann, und dass jeder Menschenbruder sein gewesener oder künftiger Landsmann ist?
Mir wurde bei dieser Rede zumut, als stürzte ich häuptlings ins Leere. Unter einfacheren Seelen lebend, war ich gewohnt, dass auf diesem Boden der großen Völkermischung ein jeder zu seinem eigenen Volkstum stand, und es war mein Stolz und meine Freude gewesen, für die Meinen tun zu können, was ich alle andern selbstverständlich für die Ihrigen tun sah. Darüber hatte ich ganz vergessen, dass der deutsche Genius seine Höhe immer nur ersteigt, um sich selber aufzulösen und zu verneinen, als ob sein Kreis sich niemals runden sollte, als ob ihm niemals eine irdische Erfüllung bestimmt sei.
Auch Kuno hatte die Stufe des Volkstums überflogen und schwebte ohne Pol im Unbegrenzten. Alles Geformte war ihm entglitten, und nur die Teilnahme am Geschick der Freunde schien an ihm noch irdisch zu sein.
Als er gegangen war, sprach mein zweites Ich die Worte aus meiner Seele:
In Zürich bedürfen sie deiner. Lass uns die Herbstferien in Europa verbringen.
*
Als wir wieder deutsche Luft atmeten, fanden wir dann freilich, dass nicht alles Gold war, was so hell über die Wasser herübergeglänzt hatte, und es ging uns allmählich auf, was Kuno durch Schweigen und halbe Worte hatte ahnen lassen. Das Reich war teuer bezahlt. Die wenigen Jahre seit der Tübinger Zeit hatten genügt, einen ganz anderen Deutschen auf die Bildfläche zu bringen; Gründer und Streberwesen standen in Blüte. Der Durchschnitt beugte sich vor dem goldenen Kalb, die einen in satter Befriedigung, die andern in ungestillter Gier. Die Besseren standen trauernd und hilflos beiseite oder waren verbitterte Nörgler geworden. Anderwärts war es ja bei der Allgemeinheit gewiss auch nicht besser bestellt, aber Deutschland, das Land der Poesie, die feste Burg des Geistes, von demselben Taumel ergriffen zu sehen, das traf ins Herz. Unersetzliches, sonst nirgend Vorhandenes, war dahin, und mein Herz füllte sich mit Trauer. Eine Luft wie im Kaffeehaus Molfetta gab es nun nicht mehr. Weder bei den Verwandten meiner Frau noch bei meinen eigenen, die noch da und dort verstreut lebten, fanden wir die Welt, nach der wir uns so tief gesehnt hatten. Wir standen auf deutschem Boden und suchten Deutschland! Und wieder einmal schwebte das Ewigmorgige vor uns her wie die Fata Morgana. –
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