Geh nicht, geh nicht, schrie Selma dazwischen.
Die tönen am vollsten in meiner eigenen Brust, antwortete er ruhig und selbstgewiss. Ich war ein Tor, wenn ich dir je dergleichen sagte. Der Dichter kann nichts lernen, als was er von je gewusst hat. Alle Erfahrungen, die er machen kann, sind schon mit ihm geboren.
Er zog mich geheimnisvoll ans Fenster. Siehst du auf dem Eichbaum gegenüber die bogenförmige Durchsicht ganz nahe dem Wipfel, die durch eine seltsame Verbiegung des Gezweigs entstanden ist? Von dorther kommen mir die Eingebungen, diese Durchsicht ist meine Bühne. Da treten sie auf und ab, da reden sie und handeln, meine Gestalten. Dorthin kommen sie aus dem Raum, wo mein Werk war, bevor ich wurde. Wenn meine Gesichte versagen, unter diesem Torbogen, der nach Walhall führt, erhasche ich sie wieder. Ich blicke so lange hinüber und sollte ich darüber blind werden, bis sie sich verdichten und mir Rede stehen. – Glaube mir, das Leben zeitigt nur blasse, verkümmerte Abbilder. Alles Leuchtende, Dauernde kommt aus der Überwelt.
Ich war geschlagen. Selma wollte ihm jubelnd wie einem Geretteten um den Hals fliegen, aber er hielt sie mit beiden Armen von sich.
Armes Weib, nicht für dich bleibe ich zurück. Du hast keinen Mann mehr.
Er streifte leicht an ihrer üppig schmiegsamen Gestalt herab, die bei seiner Berührung leise schauderte, und schob sie von sich mit Hamlets Worten: Geh, geh in ein Kloster.
Sie kauerte sich wieder in ihre Ecke auf den Schemel nieder und sagte:
Ich verlange ja nichts als dir zu dienen.
Ich brach auf, denn ich hatte hier nichts weiter zu suchen. Man hielt mich nicht zurück. Selma, die schon ihr leichtes Herz wiedergefunden hatte, eilte mir ein paar Schritte nach und bat mich wegen ihrer Heftigkeit um Verzeihung. Sie dankte mir sogar, dass mein Erscheinen die lange gefürchtete Entladung brachte, die nun ohne Schaden, wie ihr schien, vorübergegangen war!
Selma, sagte ich, Sie haben ein gewagtes Spiel gespielt. Sind Sie sicher, dass nicht eines Tages in Gustav der preußische Offizier wiedererwacht mit den empfindlichen Ehrgesetzen seines Standes?
Sagen Sie mit seinen engbrüstigen Vorurteilen. Ja, davor bin ich Gott sei Dank sicher.
So wissen Sie eben nicht, dass niemand völlig und für immer mit seiner Vergangenheit und seiner Überlieferung brechen kann.
Unser Unkas ist eine Unke geworden, spottete sie freundschaftlich.
Ich nahm einen letzten Anlauf.
Denken Sie auch daran, dass Sie sich von Gustav trennen müssen, wenn Sie Ihren Bühnenvertrag halten wollen?
Kontrakte kann man brechen, antwortete sie obenhin.
Wovon wollen Sie denn den Lebensunterhalt bestreiten?
Sorgen Sie um nichts, wenn ich nur ihn behalten darf. Meine Kunst ist freizügig.
Aber Sie sind an die Sprachgrenze gebunden.
Es gibt ein Österreich und eine Schweiz.
In großer Verwirrung fuhr ich über den See zurück. Ich kam nicht zurecht mit dem, was ich erlebt hatte. Gustav Borck, unser stolzer, edler Gustav fahnenflüchtig in der Stunde der Gefahr!
Freilich, sagte ich zu mir selber, im Bestreben ihm gerecht zu werden, Deutschland hat Streiter genug, die seinen Boden verteidigen, es hat vielleicht in diesem Augenblick keine zweite schöpferische Kraft von solcher Tragweite. Doch es half nichts, ich konnte den Eindruck mit meinem schlichten Menschenverstand nicht verarbeiten. Dass in einer Zeit wie dieser ein Einzelner, und wäre er auch der Größte, sich und sein Werk für so überschwenglich wertvoll halten konnte und das Weltbild, das er in sich trug, für wichtiger als die gewaltigste Wirklichkeit, das ging nicht in mein nüchternes Hirn. Aber die Höhe seiner Gesinnung konnte ich nicht misskennen. So empfand ich nur eine unbegrenzte Verwunderung und eine dumpfe Besorgnis. Zu viel war jetzt aufs Spiel gesetzt, wehe, wenn nun gar der Wurf misslang! Beim Abschied hatte er mir gesagt:
Ich weiß, dass du mich in diesem Augenblick nicht verstehen kannst. Darum sage ich dir nur eins: Wenn ich mein Wort nicht einlöse, wenn ich nicht ein Werk schaffe, das mein Tun rechtfertigt, so bin ich freilich nichts als ein gemeiner Auskneifer. Dann werde ich selber Kriegsgericht über mich halten. Bis dahin verschiebe auch du das Urteil über mein Handeln.
*
Der erste Mensch, der mir in der kleinen Musenstadt am Neckar begegnete, war Kuno Schütte. Er schwamm hoch auf den Wogen der vaterländischen Bewegung und verwünschte tausendmal seine bis dahin so gleichmütig ertragene Krüppelhaftigkeit, die ihn aus den Reihen der Kämpfer ausschloss. Nicht mitzudürfen, wo alles ausrückte ein Deutschland zu schaffen! Armer Kuno, so ungleich teilt das Schicksal aus. Als er von Gustav Borck das Unfassliche hörte, schüttelte er sprachlos den Kopf und ging lange schweigend neben mir her, als horchte er gespannt auf die Worte eines unsichtbaren Begleiters.
Er nachtwandelt, sagte er auf einmal, man muss ihn wecken.
Lass das, antwortete ich, er hört dich nicht. Lass du ihn seine Geisterschlacht schlagen. Der deutsche Boden hat Arme genug, die für ihn kämpfen.
Aber Kuno gab sich nicht zufrieden.
Warum hast du ihm denn nicht gesagt: Um ein ganzer Dichter zu sein, sei erst ein ganzer Mensch. Wer wird noch Poesie schreiben, wenn er sie leben kann. Hat nicht Byron, den er verehrt, den Nur-Dichter verachtet und gab er nicht sein großes reiches Leben für ein Volk hin, das ihn nichts anging, in dem er nur seine längst vermoderten Vorfahren lieben konnte?
Ich zuckte die Achseln; das alles hatte ich ihm ja fast wörtlich so gesagt.
In der kleinen Universitätsstadt ging das alte Leben weiter. Nur die Hörsäle wurden früher als sonst geschlossen, da doch der größte Teil der studierenden Jugend ins Feld gezogen war. Ich fand es drückend, Geschichte zu studieren, während drüben überm Rhein lebendige Geschichte gemacht wurde. Und noch etwas anderes lag schwerer auf mir, als ich mir selbst gestand. Der Ring an meinem Finger beengte mich, als ob er mir nicht passte. Ich nahm es als ein Symbol. Denn die Briefe meiner Verlobten enttäuschten mich tiefer und tiefer, seit ihre bestrickende Nähe nicht mehr wirkte. Ich sah ein, dass wir in völlig getrennten geistigen Welten lebten und dass sie nicht eine meiner Neigungen teilte. Sie ihrerseits fühlte sich gekränkt, dass ihr verwöhntes Ich mir vor den Weltbegebenheiten in die zweite Reihe gerückt war. Am schwersten traf es mich, dass sie, das Kind deutscher Eltern, keinen Schimmer von Anteil für ihr kämpfendes Vaterland zeigte, sondern eher nach der andern Seite zu neigen schien. Es trieb mich rastlos um und ließ mich meine Freiheit zurückwünschen, doch fühlte ich mich nicht berechtigt, selber das Band zu lösen, das keine harmonische Zukunft versprach. – Als die ersten Siegesbotschaften einliefen, strömte jung und alt beim Bahnhof zusammen, alle Augen glänzten, alte Widersacher drückten sich gerührt die Hände, und hoch über allen Menschenstimmen klang es immerzu in den Lüften wie Posaunenstöße der Erzengel: Zum Rhein, zum freien Rhein! Ich schämte mich, als junger Mann tatlos dabeizustehen.
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