Auch ich sehnte mich so in jenen Tagen, und wenn ich heute in kühlgewordener Luft dieses Gefühl nicht mehr nachfühle, so möchte ich es nicht um alles in meiner Erinnerung missen; mein Leben wäre um eine große Menschheitserfahrung ärmer. Mein Landsmann ließ sich von der Welle fortreißen und bot sich dem bayrischen Heer als Kriegsteilnehmer an; ich kämpfte dabei einen schweren Kampf. Aber gewissenhaft, wie es dem Durchschnittsmenschen zukommt, gedachte ich meiner Verpflichtungen gegen meine Braut und hielt am Schreibtisch aus, indem ich dem »Herald« eine Reihe von Stimmungsberichten schrieb, worin das Erlebte weiterzitterte.
Als ich fertig war, überkam mich mit einemmal die bisher zurückgedrängte Sorge um die Stuttgarter Freunde. Gleich nach meiner Ankunft in Berlin hatte ich eine Zeile an Gustav geschrieben, aber keine Antwort erhalten. Ich vermutete, dass ihn mein Schreiben schon nicht mehr erreicht habe, da er sich beim ersten Kriegslärm bei seinem Truppenteil gemeldet haben musste. Aber von Selma erwartete ich eine Nachricht, und ihr Schweigen wurde mir, je länger es dauerte, desto unheimlicher. Was musste die leidenschaftliche Frau, die keine Macht auf Erden anerkannte als ihre Liebe, beim Abmarsch gelitten haben, und wie trug sie es jetzt? Gewiss befand sie sich in einem verzweifelten Zustand und hatte niemand, der sich ihrer annahm, denn um Gustavs willen war sie ihrer ganzen Umgebung entfremdet. Ich war ihr vereidigter Ritter und musste, dass der Freund sie mir scheidend empfohlen hätte, wäre ich zugegen gewesen. Die Briefbeförderung war infolge der Truppendurchzüge sehr verlangsamt, also setzte ich mich auf die Bahn und fuhr selbst nach Stuttgart, wo ich Selma bestimmt vermuten musste. Denn was sollte sie noch allein in der Schweiz, während ihr Gatte gewiss schon über der französischen Grenze stand! Die kleine Reise nahm zwei volle Tage in Anspruch, ich lag bald in Augsburg, bald in Günzburg, bald in Ulm fest, um die Soldatenzüge vorüberzulassen. Und überall dasselbe Bild: Militärwagen mit Eichenlaub bekränzt, Eltern, die von ihren Söhnen, Mädchen, die von ihren Liebsten Abschied nahmen, Mützen und Tücherschwenken, »Deutschland über Alles« und stillfließende Tränen. Als ich auf den von Marschtritten und Rädergerassel dröhnenden Straßen in die stille Vorstadt kam, stutzte ich schon von weitem. Die Gartenwohnung des Dichters träumte mit ihren grünen geschlossenen Läden im tiefsten Sommerfrieden. Die böhmische Köchin öffnete. Auf meine Frage nach der gnädigen Frau antwortete sie, die gnädige Frau sei noch immer in der Schweiz. Genau konnte sie mir aber den Aufenthalt nicht nennen, sie hatte den Auftrag, alle Postsendungen nach Heiden aufzugeben, von wo sie durch einen Boten abgeholt würden.
Und der Herr?
Der Herr ist bei ihr.
Das ist doch nicht möglich. Ist er denn krank?
Darüber konnte das Mädchen keine Auskunft geben. Sie wusste nur, dass die Herrschaft jedenfalls noch längere Zeit fortbleiben würde, weil sie erst gestern einen vergessenen Gegenstand ihnen habe nachschicken müssen.
Wenn Gustav nicht abmarschiert war und Selma noch auf eine längere Abwesenheit rechnete, so musste er krank sein und sie in hilfloser Lage. Wozu war ich ihr Freund? Unter Schwierigkeiten aller Art erreichte ich den Bodensee und fuhr nach Heiden über. Dort auf der Post ermittelte ich erst ihren Wohnsitz und wanderte dann, nachdem ich die Lage des Gehöfts erfragt hatte, zu Fuß den steilen Waldweg hinauf. Nach anderthalb Stunden kräftigen Steigens hatte ich den Hof erreicht, der, von unten nicht sichtbar, halb in eine Senke geduckt und durch hohe Bäume verborgen lag. Das erste, was ich sah, war Selma. Sie stand im weißen Kleide unter einem Baum, die Hände ineinandergekrampft, und starrte unbeweglich wie ein Steinbild in die Landschaft hinaus. Als sie meinen Schritt hörte, fuhr sie auf wie ein gescheuchtes Tier. Ich rief sie mit Namen, da erkannte sie mich und flog mit einem unterdrückten Schrei auf mich zu, erfasste heftig meine Hände und wäre vor mir auf die Knie gestürzt, wenn ich sie nicht gehalten hätte.
Ich fragte nach Gustav, sie deutete nach dem Haus und legte mit flehendem Ausdruck den Finger auf den Mund.
Er arbeitet und darf nicht gestört werden, flüsterte sie, indem sie mich heftig weiter weg unter die Bäume zog.
Ich glaubte ihn krank oder ausgerückt, schon über der Grenze drüben und wollte Ihnen meine Dienste anbieten. Nun bin ich also ganz überflüssig hier, antwortete ich, irregemacht durch ihr Gebaren.
Sie hörte nicht, was ich sagte. In ihrem Gesicht kämpfte das Bedürfnis, sich an einen Freund zu klammern mit dem deutlichsten Schrecken über mein Erscheinen. Auf meine Frage, was ihr denn sei, wand sie sich wie unter einer unerträglichen Qual.
Es ist nämlich – nämlich – ein Papier angekommen – schon vor einiger Zeit, stammelte sie mit angstverzerrtem Gesicht. Ein gelbes Papier.
Der Gestellungsbefehl? fragte ich.
Sie nickte. Er weiß es nicht, sagte sie leise.
Selma, Selma, was haben Sie getan!
Wir wissen nichts von der Welt hier oben, wir haben seit einem Monat keine Zeitung gesehen. Der Knecht sagt, es gebe Krieg. Aber es ist nicht wahr, es darf nicht wahr sein! Sagen Sie, Harry, dass es nicht wahr ist!
Aber sie ließ mir gar keine Zeit zu antworten und von der Weltlage zu reden, sondern unterbrach mich gleich mit Leidenschaft:
Gustav darf nichts erfahren! Er darf nicht gestört werden! Er ist in allen Himmeln, ihn jetzt aus der Arbeit reißen, wäre ein Verbrechen an ihm, an seinem Genius, an der ganzen deutschen Dichtkunst.
Da rief es vom Hause herüber: Selma!
Gleich, gleich, Liebster! rief sie zurück und fasste mich dabei flehend an beiden Armen, mir jede Bewegung hindernd.
Mit wem sprichst du, Selma?
Sie wollte mir die Hand auf den Mund legen. Ich machte mich sanft von ihr los und rief zurück:
Ich bin’s: Ewers, der Mohikaner!
Ein Freudenruf, dann klirrte das Fenster, er kam herabgeeilt.
Ich stürze mich von diesem Felsen herab, wenn Sie reden. Sie wissen, ich halte Wort! raunte mir Selma zu. Er darf es nicht wissen, er muss sein Werk vollenden!
Selma, sagte ich, Sie wissen nicht, was Sie tun, das ist eine Verantwortung, die wir beide nicht tragen können.
Ich werde sie tragen – ich ganz allein, flüsterte sie leidenschaftlich.
Da stand er schon vor uns, im leichten Hausrock, mit bloßem Kopf, an Haar und Bart ein wenig verwildert, aber mit einem Ausdruck überirdischen Glücks.
Mein schöner Gustav ist ein Bärenhäuter geworden, scherzte Selma erzwungen mit angstverzerrtem Gesicht, das er nicht bemerkte.
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