Gleich begann sie nun zu überlegen, wie sie ihm bei der Arbeit den größtmöglichen Vorschub leisten könne. Zunächst, sagte sie, müsste nun schon der Haushalt in der Stadt weitergehen, an die sie durch ihre Verpflichtung gebunden sei, Gustav solle aber, wenn er zurückkomme, ganz für sich sein, sie wolle noch mehr als bisher jede Störung fernhalten und gar keine Ansprüche mehr an ihn stellen. Er solle sie nicht einmal sehen, unsichtbare Hände sollten ihn bedienen, er solle bei Nacht arbeiten und am Tage schlafen, wenn ihm das lieber sei. Für den Hochsommer aber, für die Zeit der Theaterferien, wisse sie einen Platz wie geschaffen für ihn: hoch über dem Bodensee ein einsames Gehöft in entzückend schöner Einöde, das zu vermieten sei. Dorthin finde kein Besuch, nicht einmal die Zeitung den Weg. Briefe und Vorräte müsse man einmal die Woche aus Heiden heraufholen lassen. Ein Knecht sei dort, der die Botengänge besorge und dem man auch die Bedienung übertragen könne. Sie wolle nicht einmal ihr Mädchen mitnehmen, wolle selber kochen, damit er durch keinen Laut gestört werde und glauben könne, der einzige Mensch auf einem ganz unbewohnten Gestirn zu sein.
In diesen guten Absichten bestärkte ich sie, so sehr ich konnte und schied voll Vertrauen in Gustav Borcks neu aufgehenden Stern. Sie nahm mir noch beim Gehen das feste Versprechen ab, dass ich ihr jederzeit, wenn ich mich in erreichbarer Nähe befände, auf den ersten Ruf zu Hilfe eilen würde, weil ich Gustavs einzig wahrhaft ergebener und verstehender Freund sei. Dr. Berka sei doch nur ein Schwamm, der seinen Geist aussauge, und Ruhland könne gegen Gustav nicht gerecht sein, denn er habe von allem Anfang an nur sie verehrt und sei ihr darum viel weniger lieb als ich, dessen Freundschaft schon immer ihrem Gatten gehört habe. In diesen Worten der guten, hingebenden Seele lag für mich die ganze Selma.
Gustav war übrigens, wie ich gleich vermutete, nur einige Bahnstrecken aufwärts gefahren, um sich in seinem alten Turmzimmer über dem Flusse, das zufällig gerade frei war, niederzulassen. Nach kurzem aber trieb ihn der Mangel seiner Bücher und anderer Hilfsmittel, die er vermisste, nach Hause zurück. Ich erfuhr es gleich durch Selma, die mir einen ihrer drolligen kleinen Zettel nachfliegen ließ, der mich noch vor Abgang des Schiffes in Hamburg erreichte:
Pst! pst! Er dichtet an der Varusschlacht. Das Frauchen geht auf Strümpfen durchs Haus und lernt ihre Rollen in der Waschküche.
Darüber stand mit Gustavs großer kühner Handschrift:
Sieg! Sieg! Das Lager ist gestürmt, die Legaten fallen. Wotan und die Siegsgötter kämpfen mit uns, die Adler sind erbeutet. Germanen und Römer gleich groß in Vaterlandsliebe und Todesverachtung.
Es klang fast wie eine Depesche vom Kriegsschauplatz. querdurch war noch geschrieben:
Wohl ist den Wahlgöttern, wisst ihr, was das bedeutet?
*
Mein Geschäft in Amerika war schnell erledigt, doch trat dort ein Ereignis ein, das für mein Leben folgenreich wurde. Bei einem Gartenfest in Philadelphia hatte ich ein reizendes Prinzeßchen kennengelernt und mein Herz so unbedacht verloren, dass ich durch einen Ring gebunden war, bevor wir Zeit gehabt hatten, unsere Naturen aneinander zu prüfen. Nun hieß es vor allem, eine feste und einträgliche Stellung schaffen unter Verzicht auf das höhere Ziel, das mir vorgeschwebt hatte, die akademische Laufbahn. Ich stellte mich auf der Schriftleitung des »Herald« vor, wo ein Freund von mir einen einflussreichen Posten einnahm, und wo ich schon durch wiederholte Beiträge empfohlen war, besonders nachdem ich zum Besten seiner Leser heimlich im Münchner Theater einer jener Sondervorstellungen anzuwohnen gewagt hatte, die keine Zuschauer haben sollten als den einsamen jungen Romantiker in der Königsloge. Als Berichterstatter des »Herald« für alle wichtigen Neuerscheinungen in Kunst und Leben kehrte ich noch einmal nach Deutschland zurück, um neben dem neuen Beruf noch ein Semester weiterzustudieren, bevor ich endgültig in den Dienst der Presse trat. Dieses Zugeständnis hatte ich meiner Verlobten, die nicht recht einsah, wozu das gut sein sollte, noch abgerungen.
Das war im Sommer 1870. Kein Wölkchen stand am politischen Himmel, ja nicht einmal die Bewerbung des Hohenzollernprinzen um den spanischen Thron war bekannt geworden, als ich mich wieder nach Europa einschiffte. Das Wetter war stürmisch, wir brauchten bei hohem Seegang fast das Doppelte der gewohnten Überfahrtszeit. Als ich in Hamburg den Fuß an Land setzte, flog eben die Emser Depesche in die Welt. Noch immer wusste ich von nichts; erst auf der Eisenbahn zwischen Hamburg und Berlin erfuhr ich aus Gesprächen der Mitreisenden, was vorging. Berlin fieberte schon. Ich erlebte dort den begeisterten Empfang des Königs, das Eintreffen der französischen Kriegserklärung, all die unvergesslichen weltgeschichtlichen Augenblicke. Der Norden Deutschlands stand da wie ein Mann. Die Gegner von Sechsundsechzig versöhnten sich; der entthronte Herzog von Nassau bot dem König von Preußen seinen Degen an. Auch die alten Achtundvierziger vergaßen ihren Groll. Ein Jugendfreund meines Vaters, der mich liebte wie einen Sohn, kabelte aus Boston seinen Glückwunsch, dass ich die Erfüllung des deutschen Traumes aus der Nähe schauen dürfe. Ende Juli war ich in München, wo ein Freund und Landsmann mich erwartete. Dort gingen die Wogen fast noch höher als in Berlin; schon am 16. hatte der junge König zum Zeichen der Bundestreue die Mobilmachung befohlen und den ganzen Süden Deutschlands in einem Sturm der Begeisterung mitgerissen. Der Norden kämpfte, weil er musste, denn er war der Angegriffene, der Süden kämpfte aus Herzensdrang als Bruder mit, die Freiwilligkeit des Opfers erhöhte seine Freudigkeit. Die wenigen Stimmen der Neinsager gingen im brausenden Orkan des Volkswillens unter. So sollte jetzt vor meinen Augen das Große werden, das durch Jahrhunderte Ersehnte, Niegewesene, das einige Deutschland! Als ich dann die ersten Truppenschübe mitansah, wäre ich, obwohl Bürger eines anderen Staates, am liebsten mitmarschiert, so fuhr mir das in die Glieder. Der Sohn des Achtundvierzigers war in mir erwacht, der das Land seiner Väter erschaffen helfen wollte, und zugleich der kleine Abenteurer, der einstmals seine noch schwachen Knochen gegen die Sklavenstaaten eingesetzt hatte.
In Kriegszeiten sind besondere Wellen in der Luft, deren Schwingungen den davon Ergriffenen seltsam verwandeln, dass er dem Kaltgebliebenen unverständlich wird und seinerseits auf diesen als auf ein Wesen niederer Ordnung heruntersieht. Bei romanischen Völkern führt dieser Zustand zu blindwütiger Tollheit, die einmal entfesselt nicht mehr zur Ruhe kommt, den Germanen ergreift er nur vorübergehend, aber er ist unwiderstehlich, solange er dauert. Ist es eine göttliche Neubeseelung, ein »Stirb und Werde« oder ein Rückfall ins Dämonisch-Naturhafte? Nur der Dichter kann es in Worte fassen, dieses Sichhingebenmüssen um jeden Preis, das Verglühenwollen auf dem Scheiterhaufen, Sichauflösen ins Ganze, Nichtsmehrseinwollen als auftauchende Wellenkrone im bewegten Ozean. »Das wunderbare Sehnen dem Abgrund zu«, nennt es der Seher unter Deutschlands Dichtern.
Читать дальше