Die Hand nicht wäscht er,
Das Haar nicht kämmt er,
Bis zum Holzstoß er brachte
Balders Mörder,
rezitierte er nach seiner Gewohnheit.
Das war wieder der ganze Gustav Borck. Er wunderte sich nicht, woher ich kam, da er mich doch in Amerika vermuten musste, er fragte nicht, was mich in diese Einöde führte. Der äußere Zusammenhang war wieder einmal nicht für ihn vorhanden. Ich war zur Stelle, ich musste zur Stelle sein, weil meine Anwesenheit gerade jetzt ihm erwünscht war, weil der Augenblick gekommen war, wo seine übervolle Seele einer Aussprache bedurfte. Die schöpferische Raserei besaß ihn ganz.
Wir hatten uns im Haus auf einer Holzveranda mit Glasfenstern niedergelassen, gegenüber einer Gruppe hoher Bäume. Mir war entsetzlich zumute, lieber wäre ich wieder auf hoher See gewesen, von den Ozeanwellen im Ungewissen herumgeworfen, als hier auf der friedlichen sonnigen Alm, dem Freunde gegenüber, dem ich sein Schicksal zu verkünden hatte. Er schwamm auf der höchsten Woge seines Glücks. Die Stille in der Natur und Selmas völlige Selbstverleugnung hatten ihm den Genius zurückgeführt, seinen Herrn und Despoten.
Jetzt erst verstehe ich, wie elend ich gewesen bin, wie ich mich quälen musste ohne Ihn. Aber wir wissen nicht, wie gut wir geführt werden. Es war mein Glück, dass ich damals durch Jurisprudenz und Heirat unterbrochen wurde, mein guter Geist legte mir die Hand auf den Mund, weil ich noch nicht reif war. Jetzt ist Er erst ganz dabei, und jetzt geht es wie im Traum.
Mein beklommenes Schweigen sagte ihm nichts, er redete immer weiter:
Das Werk ist weit über seine erste Anlage hinausgewachsen. Du wirst über den zweiten Teil staunen, wie anders das alles geworden ist, wie stark, wie reif. Aber der dritte Teil, der dritte Teil wird die Krone von allem. Noch ein paar Wochen Stille und Bergluft und solches Wetter wie heute, so haben wir wieder eine deutsche Tragödie.
Man konnte, wenn man sein begeistertes Auge sah, für Stunden vergessen, dass drüben überm See der Boden vom Tritt ausrückender Truppen bebte, und sich in unsern stillen Anrichtwinkel bei Molfetta zurückversetzt glauben, wo es keine Ereignisse gab als die der Kunst. Noch ein paar Wochen für sein Werk. Ich hätte mein Blut gegeben, sie ihm zu schaffen. Aber was war zu tun? Jede Stunde, die verrann, stempelte ihn mehr zum Fahnenflüchtigen. Volle zehn Tage war der Gestellungsbefehl auf dem Postamt liegengeblieben. Durch Zufall glaubte ich zuerst, allein Selma hatte diesem Zufall nachgeholfen. Das war nicht schwer gewesen, sie brauchte bloß nicht mehr zur Post hinunterzuschicken, seitdem sie das erste Gerücht vom Krieg vernommen hatte, das sie ihm verschwieg. Damit hatte sie nicht nur ihn, sondern auch sich selbst in künstlicher Unwissenheit erhalten bis zum gestrigen Abend, wo Gustav einen Brief aufgeben ließ und der Knecht einen ganzen Stoß liegengebliebener Postsendungen heraufbrachte, darunter auch das verhängnisvolle Blatt; die hatte sie gleich alle miteinander unterschlagen. Dem Knecht war strengstens eingeschärft, dem Herrn kein Wort zu sagen von dem, was in diesem Augenblick die halbe Erde erschütterte. Auch das konnte sie durchsetzen, denn die beiden sprachen kaum je miteinander; alle Befehle Gustavs gingen durch sie. So bildete die Ärmste sich wirklich ein, ihm auf die Länge die Weltereignisse verheimlichen zu können. Und in diesem Augenblick musste das Schicksal mich daher führen! Sie mochte wohl zuerst gehofft haben, an mir, ihrem alten Tröster und Berater, auch jetzt einen Beistand in ihrem Sinne zu finden, aber seit wir die ersten Worte gewechselt hatten, betrachtete sie mich als ihren schlimmsten Feind und Widersacher. Ich machte nicht minder schreckliche Augenblicke durch als sie, da ich mich vor die Notwendigkeit gestellt sah, sein wiedergefundenes Schöpferglück zu zerreißen und sie in Verzweiflung zu stürzen.
Sie stand hinter seinem Stuhl, dass er ihr Gesicht nicht sehen konnte, und ihre Augen drohten mir – ich wusste aus Erfahrung, dass sie auch imstande war, ihre Drohung wahr zu machen, so schwieg ich noch verworren. Gustav hatte sie schon wiederholt gebeten, eine Flasche Wein und ein paar Gläser zu bringen, aber Selma sagte nur: »Gleich, gleich!« und blieb wie angekettet stehen, mich mit ihren Blicken im Banne haltend. Wir redeten kein Wort miteinander, nur unsere Augen führten einen heimlichen Krieg.
Mir ist alles gleich, ich frage nur nach Gustav, sagten die ihrigen.– Ich auch, Selma, gerade deshalb! antworteten die meinigen. Während dieser stumme Zweikampf noch dauerte, sprang Gustav in die Höhe und sagte wohlgelaunt:
Wenn du dich gar nicht von seinem Anblick losreißen kannst, so werde ich selber nach einer Erfrischung gehen.
Kaum hatte er sich entfernt, so stürzte Selma auf mich zu:
Erbarmen, wenn Sie sein Freund sind! Ist Ihnen sein Dichterberuf heilig, so haben Sie die Pflicht zu schweigen.
Ich suchte ihr begreiflich zu machen, dass es um seinen guten Namen und ganze Zukunft ging, dass er sich das Vaterland für immer verschließe, dass er bürgerlich tot sei, wenn er nicht wie jeder andere Heeresangehörige sich unverzüglich bei seinem Regiment stelle. Ich erinnerte sie an die Tausende und aber Tausende von Frauen, die alle in der gleichen Lage waren:
Was sollte aus dem angegriffenen Lande werden, wenn alle dächten wie Sie?
Ich hatte gut reden.
Mich hat man nicht gefragt, ob Krieg sein soll, antwortete sie trotzig, man hat kein Recht, mir meinen Mann zu nehmen.
Doch sie verdarb sich mit ihrer Heftigkeit selbst das Spiel. Gustav, der im eigenen Haus Bescheid wusste wie auf dem Mond, war ungeduldig mit leeren Händen zurückgekehrt.
Was geht hier vor? fragte er mit gerunzelter Stirn. Was soll ich nicht erfahren?
Selma schrie laut auf bei seinem Eintritt und rannte kopflos von einer Ecke in die andere.
Sie wollte es dir vorenthalten. Aber das ist eine Unmöglichkeit. Also je rascher, desto besser: Der Krieg ist ausgebrochen! Frankreich hat an Preußen den Krieg erklärt! Ganz Deutschland hat sich einmütig erhoben, die verbündeten Heere stehen schon jenseits des Rheins.
Starr, entgeistert, weiß wie Kreide hörte er an, was ich von den Weltbegebenheiten erzählte. Krieg! sagte er in fassungslosem Erstaunen vor sich hin – und ich soll mit! – dann brach es plötzlich wie eine Raserei an ihm aus.
Der Dämon! Der Dämon! schrie er. Er will mich nicht vollenden lassen. In allen Formen kommt er und stellt sich zwischen mich und mein Werk. Nur so weniges fehlt zur Vollendung, ein paar Wochen hätten genügt. Er gönnt sie mir nicht, er schickt mich in den Krieg. Was wird aus meiner Dichtung, wenn ich fort muss!
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