Warum nennen Sie ihn immer mit seinem römischen Namen? fragte ich.
Er fuhr sich mit beiden Händen an die Schläfen. Weiß ich denn, wie er geheißen hat? stöhnte er. Weiß es irgendwer? Jeden Namen kann er gehabt haben, nur nicht den Namen Hermann. Das sagt unser Grimm, der am besten Bescheid wusste. Oh, ich möchte den frommen Ludwig, den Pfaffenkaiser, aus dem Grabe kratzen, um ihn zu martern, weil er mit den Heldenliedern unserer heidnischen Väter auch den echten Namen des Befreiers vernichtet, der Vergessenheit überliefert hat. Nun ist von unserm deutschesten Ruhm die deutsche Schande unzertrennlich, dass wir ihn nur mit dem Namen nennen können, den ihm der Römer gab, und dass ohne das Zeugnis des Feindes jede Spur von ihm verweht wäre. Ehre sei den Römern, dass sie ihren Todfeind zu ehren wussten und mehr für ihn taten als sein eigenes Volk.
Aber da nun einmal der Name Hermann so angenommen ist, wandte ich ein, wäre es da nicht besser, es beim alten zu lassen wie Ihre Vorgänger, die doch wohl auch von diesen Bedenken wussten?
Was sie wussten oder nicht wussten, geht mich nichts an, sagte er, unruhig durchs Zimmer gehend. Ich kann nicht lügen. Wo ich nicht glaube, da erstarre ich. Der Name Hermann tönt nicht in meiner Seele, also kann er auch nicht echt sein. Und zudem haben ihn die Bierbankpatrioten längst zu Tode gebrüllt.
Freilich, setzte er lächelnd hinzu, Onkel Paul würde wüten wegen des Namens und nicht minder wegen der Rolle, die ich seinen Abgott spielen lasse. Für ihn war der Cheruskerheld eine ganz einfache Seele, blind und taub für die Schönheit einer höheren Bildung, ungerührt von allen Reizen und Lockungen Roms, inmitten aller italischen Herrlichkeit nur für die rauen heimatlichen Wälder glühend, kurz, ein Mann wie er selber war, aus Einem niederdeutschen Eichenscheit geschnitzt. Mein Armin hat ein völlig anderes Gesicht, ein zerrissenes, aber ein größeres. Der römische Ritter, der unter den Edlen Roms als Gleicher stand und an all ihren Ehren teilhatte, konnte nicht verbissener Römerfeind von allem Anfang sein. Die Hermannsschlacht musste erst in dem Busen des Cheruskers geschlagen werden, ehe sie durch die Wälder von Teutoburg tobte. Er bewundert die Römer, aber er vernichtet sie. Das ist seine wahre Größe; daher sein dämonisches, erbarmungsloses Wüten, weil er gegen sich selber, gegen einen Teil seines eigenen Wesens wütet.
Seine Gedanken verloren sich allmählich ins Weite. Es gebe gar keine Vergangenheit, sagte er unter anderem, wir brauchten nur unser kurzes Sehfeld über den Horizont des Tages hinaus zu verlängern, so sei alles Gewesene noch vorhanden. Alles Schöne und Große, was je auf Erden geblüht habe, müsse wieder sichtbar gemacht und in den Kreislauf des Lebens zurückgeholt werden. Das sei die Aufgabe des Dichters und symbolisch im Orpheusmärchen vorgebildet.
Aber nur dem festen, nie wankenden Glauben gelingt das Wunder. Wehe, wenn er zweifelt und sich umschaut! Alsbald versinkt der beschworene Schatten, der ihm nur folgt, solange er glaubt.
Dann kam er auf Märchen und Symbole zu sprechen, hinter denen immer eine höhere Wahrheit stehe, denn der menschliche Geist als Ausfluss von Gottes eigenem Geist, behauptete er, könne sich niemals täuschen, und alles was er je geahnt habe, müsse sich einmal irgendwie auf Erden selbst erfüllen – ein Wort, an das ich oft zurückdachte, seitdem die großen Erfindungen der Technik das Leben immer märchenhafter umgestaltet haben.
Aber als er seine Kreise weiter und weiter zog und geheimnisvoll vom inneren Einssein aller Dinge zu reden anhub, das er die Grundselbigkeit nannte, da verging mir am Ende Hören und Sehen, und ich begann für meine eigene Selbigkeit bange zu werden.
Wir standen zusammen am offenen Fenster und schauten in die Frühlingsnacht hinaus; der Neckar rauschte leise am Fuß des Turmes vorbei, und die noch unbelaubten Platanen überm Flusse drüben neigten sich im Wind. Gustavs Stimme, die er dämpfte, um von den Nachbarfenstern nicht vernommen zu werden, war wie ein magisches Raunen um mich her. Unten glitt ein Boot mit unkenntlichen Gestalten, von denen eine die Mundharmonika blies, auf dem dunklen Wasser hin; mir war’s als zögen Helden und Barden der Vorwelt, von ihm beschworen, leibhaft vorüber. – –
In den Flugschriften seines Verwandten, die er mir auf meine Bitte mit nach Hause gab, lernte ich gleichfalls einen merkwürdigen Menschen kennen, der mich in vielem an den Neffen erinnerte. Es war dieselbe rücksichtslose, fanatische Hingabe an die Sache beim einen wie beim andern. Besonders zog mich seine letzte Schrift über die Gnitahaide an. Sie trug das Motto: Wohl ist den Wahlgöttern, wisst ihr, was das bedeutet? Dieses dunkle Eddawort bedeutete nach ihm den Jubel der Germanenstämme über den Untergang der Legionen. Allmähliche Verdunkelung und Verwirrung der mündlichen Überlieferungen und die Furcht vor dem Fanatismus der christlichen Priester, in denen die Römermacht sich verkappt aufs neue eingeschlichen habe, um alle alteiligen Erinnerungen des Volkes auszutilgen, seien für die späten Sammler auf Island der Anlass gewesen, die geretteten Reste der alten Heldenlieder in so geheimnisvolle Hüllen zu verstecken. Aber ein Merkmal hätten sie doch dem Siegfried angeheftet, das ihn als Armin verrate: das strahlende Auge, das Siegfriedsauge, dem niemand standhält, mache den Recken der Niflunge als den geschichtlichen Stammeshelden kenntlich, dem nach dem Zeugnis des Todfeinds das ungewöhnliche Feuer der Seele aus Augen und Antlitz strahlte. Die Schrift war fesselnd geschrieben, und solange man las, stand man im Banne des Verfassers. Aber am Schlusse war man doch froh, wenn man sich schütteln konnte und Arminius wieder Arminius, Siegfried Siegfried war. Augenscheinlich war ein geistreicher Einfall, der den ganzen Untersuchungen zum Ausgangspunkt gedient hatte, in der Schrift so dargestellt, als ob er vielmehr deren Endergebnis wäre, und die Früchte einer seltenen Belesenheit waren willkürlich aneinandergereiht, um gewaltsam diesen Einfall zu stützen. Das musste von vornherein den schroffsten Widerspruch der Fachleute herausfordern. Auch ließ der überreizte Ton das Verhängnis ahnen, dem der unglückliche Forscher entgegenging.
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Dann kam der Abend, wo Gustav in seinem Stübchen mir, Olaf Hansen und Kuno Schütte bei verschlossener Tür den fertigen Teil seiner Dichtung vorlas. Armer Shakespeare, noch ärmerer Kleist, was wart ihr an jenem Abend gegen Gustav Borck! Unser Dichter war ja ein Jüngling und Jünglinge waren die Hörer; wo aber Jugend gibt und nimmt, da geht es überschwenglich her. Und wie viel wunderbarer in die Esse zu blicken, wo die rotdurchglühten Gestalten der Dichtung sich zu formen beginnen, als das schönste Werk fertig vor sich zu sehen. Denn das Fertige steht da, als wäre es von je gewesen, im entstehenden Werke glaubt man den heißen Hauch der Gottheit selber zu spüren. Mag aber auch zu unserem Rausch die eigene Jugend und der Glaube an den Verfasser das meiste getan haben, doch fühle ich noch heute in der Erinnerung etwas von dem Zauber jenes Abends, wo ich glaubte, dem Aufgang eines neuen Zeitalters in der Dichtung anzuwohnen.
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